Darf der Staat zum Dealen verführen?

■ BGH muss entscheiden, wie der Einfluss von Lockspitzeln im Strafprozess zu werten ist

Karlsruhe (taz) – Die Polizei muss vermutlich bald ihre Lockspitzel zügeln. Beim Bundesgerichtshof (BGH) wurde gestern über die Frage verhandelt, was passiert, wenn Bürger von so genannten Agents provocateurs zu Straftaten angestiftet wurden. Morgen will das oberste deutsche Strafgericht ein neues Grundsatzurteil zu dieser Frage verkünden.

Im konkreten Fall war ein italienischer Versicherungsmakler, der in München lebt, von einem polizeilichen Lockspitzel in ein Drogengeschäft hineingezogen worden. Der Spitzel suchte den Italiener im Juli 1997 vermeintlich in einer Versicherungsangelegenheit auf, fragte dann aber unvermittelt, ob der Makler ihm auch ein Kilo Kokain besorgen könne. Da der Italiener bisher nichts mit Drogengeschäften zu tun hatte, verneinte er und sagte deutlich, dass er mit solchen Dingen auch künftig nichts zu tun haben wolle. Doch der V-Mann ließ nicht locker und fragte in den folgenden Wochen noch mehrmals nach.

Erst bei der vierten Anfrage ging der Italiener auf das Angebot ein und versprach, „sich umzuhören“. Da er selbst aber wirklich keine Rauschgifthändler kannte, bat er einen ihm bekannten Drogensüchtigen um Hilfe. Dieser verschaffte ihm dann die nötigen Kontakte. Doch als der Italiener das Kokain im Wert von 100.000 Mark übergeben wollte, schnappte die Falle zu. Der Mann wurde verhaftet und vom Münchener Landgericht wegen Drogenhandels zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Sein Anwalt Eberhard Kempf findet, dass der Staat in diesem Fall „seinen Strafanspruch verwirkt hat“. Er stützt sich dabei auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von Juni 1998. Das in Straßburg sitzende Gericht des Europarats hatte damals Portugal in einem ähnlichen Fall wegen Verletzung des Rechts auf ein „faires Verfahren“ zu einer hohen Entschädigungszahlung verurteilt. Das Opfer hatte bereits mehrere Jahre in Haft gesessen.

In Deutschland sah man derartige Fälle bisher weniger streng. Vor allem im Drogenbereich passiert es häufig, dass verdeckt ermittelnde Polizeibeamte oder V-Leute, die mit der Polizei zusammen arbeiten, Straftaten initiieren. Teilweise will man so den „Hintermännern“ auf die Spur kommen, oft werden dann aber doch nur kleine Fische erwischt oder sogar Leute, die sonst gar nicht kriminell geworden wären. Nach einer Grundsatzentscheidung des BGH von 1984 kann der erwischte Täter aber auch in solchen Fällen vor Gericht gestellt werden. Dass die Tat eigentlich von der Polizei provoziert wurde, führt nur zu einem Strafnachlass.

Eberhard Kempf, einer der renommiertesten deutschen Strafverteidiger, ist davon überzeugt, dass sich diese Praxis nun nicht mehr halten lässt. „In solchen Fällen macht staatliche Strafe wirklich keinen Sinn“, deshalb dürfe es erst gar nicht zum Strafprozess kommen. Der BGH solle seine „Strafzumessungs-Lösung“ aufgeben und künftig ein „Verfahrenshindernis“ annehmen. Der BGH ist zwar nicht direkt an das Straßburger Urteil gebunden. Wenn er es aber allzu deutlich ignoriert, wird die Bundesrepublik in nächster Zeit recht häufig in Straßburg verurteilt werden.

Christian Rath