Rundgang durchs Schlachthaus Europa

■ Durs Grünbein liest heute aus seinem neuen Gedichtband „Nach den Satiren“

Alles beginnt in der Provinz. Geronnene Reiseeindrücke eröffnen Durs Grünbeins aktuellen Gedichtband „Nach den Satiren“. Er umfasst Gedichte aus den Jahren 1994 bis 1999. Wer aber glaubt, die Provinz fungiere als Refugium, als Ort, wo man die politische Topografie hinter sich lassen kann, irrt.

Zugegeben: Zeilen wie „Die Stille um einen toten Maulwurf / Am Rand eines Weizenfelds, sie trügt.“ offenbaren eine ziemlich schräge Vorstellung von Naturlyrik. Wäre doch gelacht, wenn sich auf dieser böhmischen Straße, so die geografische Einordnung, nicht doch eine Allegorie finden ließe. Zumindest ist dies dritte Provinzgedicht von der Realität längst eingeholt. „Kommandos im Eilmarsch“; der Kadaver von Gewürm umgeben, von Käfern. Und über allem der Greifvogel. Die Luftabwehr? „Vom Bauchfell / Tragen fliegende Händler (oder sind es Reporter) / Die Botschaft in alle vier Winde: Ein Aas, ein Aas!“ Als ob die Medienrealität der Kriege sich bereits ins Tierreich eingeschlichen hätte.

Satiren, sagt das Lexikon ein wenig hölzern, seien ursprünglich Stegreifdichtungen gegen den Verfall einer Stadt. Spontanes findet sich bei Grünbein allerdings nicht. Die Texte wirken wie immer durchgearbeitet bis zu einer Perfektion, die mitunter den Eindruck kalter Erstarrung hinterlässt.

Und was bedeutet die zeitliche Bestimmung „Nach den Satiren“? Kommt jede Hilfe zu spät, sei sie tätlicher, sprachlicher oder sonstwelcher Art?

Stets betont der Autor, wie gern er die Ideologien hinter sich gelassen hat. Erneut hebt er an zum posthistorischen Rundgang durchs „Schlachthaus Europa“. Genüsslich stochert er im Geschichtsmüll wie in dem, was von der (Dicht)Kunst übrig bleibt. „Und dass es Tod nicht gibt, nur Tote... endlich war / Auch diese Einsicht nah.“ So heißt es in der Abteilung „Nachbilder. Sonette“. Zeitlose, fast mythische Vorstellung von Vergänglichkeit. So ist „Nach den Satiren“ auch nicht allein zeitlich zu verstehen, sondern auch als eine Bewegung des 'Hinterherschreibens'. In Anlehnung an Juvenalis deutet der Autor die Randbereiche zwischen Wachheit und Traum, zwischen Schlaf und Schlaflosigkeit aus.

Besieht man die Widmungen, merkt man, woher der Wind weht. Mit Heiner Müller und dem russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin teilt Grünbein eine Haltung, die auch von der Einsicht ins unabwendbare Chaos sich den Spaß nicht recht verderben lassen mag. „Freunde, was ist das? Seit Tagen quält mich ein Traum / Immer derselbe.“ „Kein gutes Omen“ ist dieses Gedicht überschrieben. In der Tat nicht, doch braucht Grünbeins Poesie keinen hellen Stern. Sie leuchtet selbst.

Kleinigkeiten sind es, die den Reiz ausmachen. Ungewohnte Wendungen und Drehungen, die Art, wie überzeitlich Antike und Gegenwart in eins gesetzt werden. Und die morbide Fröhlichkeit, die immer wieder aufscheint.

„Physiognomischer Rest“ heißt der letzte Abschnitt, der knapp die Hälfte des Bandes umfasst. Grünbein hat schon immer mit Vorliebe seziert. Geschichte genauso wie den Menschen. An die „Schädelbasislektionen“ von 1991 knüpft er hier an. Was bleibt, ist eben dieser Rest, eine Art Körpertopografie. Was leblos ist, oder zumindest kurz davor, fasziniert. „Auch dieses Kinn, das du manchmal im Spiegel siehst, / Wird man irgendwann finden, den Knochen dazu, / Unter anderen Knochen.“ Meditationen über die Vergänglichkeit, in denen erneut der archäologische Blick direkt auf die Gegenwart zielt, Zeiten kurzschließt.

Solche Momente sind es, die zeigen, dass es allemal lohnt, sich den Weg durchs Gestrüpp der Belesenheit des Autors zu bahnen. Und manchmal klingt es fast nach einem Liebesgedicht. „Ohr an Ohr durch die Nacht / Selig segelnd, ein Paar / Schräger Vögel, was haben / wir vorm Schlaf schon gelacht.“ Dieses Gedicht heißt „Unbekümmert, anderntags, Verse“. Nicht gerade Grünbeins Lieblingshaltung.

Tim Schomacker

Durs Grünbein: Nach den Satiren. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. 230 Seiten. 38 Mark. Der Autor liest heute Abend um 20 Uhr in der Stadtwaage, Langenstraße 13