Lieber schön sandig als digital

■  Die Anzeigetafel am Hamburger Millerntor: aus altem Haupttribünenstahl geformt, hoffnungslos gestrig, von den Fans heiß geliebt und eine kuriose Quelle zum Geldverdienen

St.Pauli (taz) – Gelassen zieht Bruno Siegmund an seiner Zigarette. „In dieser Saison konnte ich uns noch keinen Heimsieg anhängen“, erzählt der 63-Jährige und lässt Qualm ab.

Die Augen hat der Ordner immer am Ball. Sollte die Kugel im Tor landen, muss es schnell gehen. Siegmund bedient seit eineinhalb Jahren einen der letzten noch manuell betriebenen Ergebnisdienste im deutschen Profifußball – die Anzeigetafel im Millerntor-Stadion des FC St. Pauli. Lediglich beim Zweitliga-Konkurrenten Chemnitzer FC werden Resultate noch gleichermaßen stromlos vermeldet. Bei Heimspielen der Stuttgarter Kickers, Alemannia Aachen und TeBe in Berlin müssen die Fans gar selber mitzählen – dort gibt es gar keine Hilfestellung.

Doch die Tage, an denen es auf dem Hamburger Kiez noch per Hand gemacht wird, sind gezählt. Die Planungen des Vereins, das marode Stadion komplett neu zu gestalten, umfassen auch die Modernisierung der Ergebnistafel. Schon bald sollen die bezifferten Schilder zu Relikten aus alter Zeit gehören und Resultate, Torschützen und Aufstellungen dann wie in jedem x-beliebigen Stadion elektronisch bekannt gegeben werden. „Die Demontage kommt“, prophezeit der ehemalige St.-Pauli-Profi und Architekt Reinhard Kock, der einst auch die Baupläne der gut sieben Meter hohen Stahlkonstruktion entwarf. In Zeiten, in denen Fußballingenieure die Anzahl von Einwürfen und indirekten Freistößen zu wegweisenden Statistiken verarbeiten, sei „diese Anlage veraltet“, befindet Kock. Sie sei „ohnehin nur als Übergangslösung gedacht“ gewesen.

Einstweilige Überlegungen, die ausrangierte Anzeige des Hamburger SV aus dem Volksparkstadion für 500.000 Mark zu übernehmen, habe man vor neun Jahren aus Kostengründen schnell wieder vergessen müssen. Die damalige Prämisse lautete: „Lieber Sand- als Digitaluhr.“ Bei Sanierungsarbeiten am Stadion wurde kurzerhand Recyclingmaterial zusammengeschweißt und so die Ausgaben auf 35.000 Mark gesenkt. „Der Stahl kam vom Dach der Haupttribüne“, weiß Kock.

Und es war eine Investition, die sich mehr als gelohnt hat: Die Ergebnisanzeige ist die begehrteste und ertragreichste Werbefläche im gesamten Stadion. Seit ihrer Premiere am 14. August 1990 beim 0:0 gegen den FC Bayern München erwirtschaftete sie rund das Zehnfache der Baukosten. Wohl auch, weil sich während der Spiele oftmals skurrile Pannen – sprich: Fehlanzeigen – ereignen, die – von den Fernsehkameras eingefangen – stets frenetisch gefeiert werden. Etwa, als noch Jugendspieler des Vereins die Nummern bedienten: Einmal hatte einer der kleinen Helfer fünf Minuten lang Probleme, die für ihn viel zu hoch angebrachten Schilderhaken zu erreichen. Erst unter lautstarken Anfeuerungsrufen des Publikums gelang es ihm, den Zwischenstand publik zu machen.

Windanfällig war die Anlage mit ihrem, so Kock, „diffusen Stahlgeflecht“ von jeher: Manchmal gerieten bei stärkerer Brise Zahlen gehörig ins Wackeln und fielen mitunter herunter. Unvergessen bleibt auch der Bundesliga-Auftakt 96/97, als Helmut Stam – auch heute noch Ordner – im Spiel gegen den FC Schalke 04 sage und zähle acht Mal die Schilder austauschen musste. Endstand: 4:4 – Torrekord am Millerntor.

In der vergangenen Spielzeit hatte offenbar niemand damit gerechnet, dass die Reimann-Elf fünf Treffer gegen die Stuttgarter Kickers erzielen würde: „Die 5 lag noch im Geräteraum und musste schnell geholt werden“, verrät Nummernwechsler Bruno Siegmund, der später sogar noch die 6 platzieren durfte. Nicht zuletzt diese Anekdoten sind auch der Grund, warum gerade den Fans der manuelle Service so gut gefällt. „Sie haben die Tafel zum absoluten Kultobjekt erklärt“, glaubt Reinhard Kock. Daher überlegen die Stadionplaner, die betagte Anzeige in die geplante neue Arena zu integrieren, „als Erinnerung an alte Zeiten“, wie Kock meint. Zumindest ein bisschen Tradition scheint der FC St. Pauli also doch bewahren zu wollen. Täte dem derzeit so ramponierten Vereinsbild auch ganz gut. Oliver Lück