■ Die neue Dienstleistungsgewerkschaft „ver.di“ darf nur der erste Schritt auf dem Weg zu grenzüberschreitenden Organisationen sein
: Eine bittere Notwendigkeit

Mit ver.di können die Gewerkschaften Geld sparen und Mitglieder besser betreuen

Wenn beim Stichwort „ver.di“ immer von Superlativen wie „Jahrhundertfusion“ oder „weltgrößte Gewerkschaft“ die Rede ist, dann muss ein superweiter Blick über den Tellerrand gestattet sein: Welche der großen Probleme der Gewerkschaften löst ver.di? Und welche nicht? Im Vordergrund der anschwellenden Diskussion stehen Synergien und Rationalisierungseffekte. Das kann die Qualität der Mitgliederbetreuung verbessern, und es wird Kosten sparen, Konkurrenz und doppelte Arbeit werden abgebaut: So werden beispielsweise keine fünf Referate für Mitbestimmung oder Grundsatzfragen mehr nötig sein. Von 940 Beschäftigten bei den Hauptverwaltungen werden, so die Planungen, kaum noch 600 gebraucht. ver.di ist im Wesentlichen eine betriebswirtschaftliche Anpassungsreaktion auf die Krise der Gewerkschaften, auf ihren Mitglieder-, Einnahme- und Bedeutungsverlust in den letzten 15 Jahren: eine bittere Notwendigkeit.

Dass es nur das sein soll, hat die Gewerkschaftslinke, allen voran Detlef Hensche, auf den Plan gerufen. Inzwischen ist Konsens, dass es bei ver.di auch um Politik geht, um Niedriglohnpolitik, Flächentarifvertrag und Perspektiven der Arbeitszeitpolitik. Die bekannten Strömungen innerhalb der fünf Partner – ÖTV, DAG, Postgewerkschaft, IG Medien und HBV – projizieren ihre Folien auf die ver.di-Leinwand und ringen darum, die neue Programmatik mehr in Richtung modern, Gestaltung, Gegenmacht, neoliberal oder Klassenkampf zu drücken. Dabei überschätzen sie die Breite ihres Handlungskorridors.

Wenn sich öffentliche Nahverkehrsunternehmen bei ihrer privaten Niedriglohnkonkurrenz einkaufen, um dem Flächentarif des öffentlichen Dienstes zu entkommen, oder wenn private, teils ausländische Krankenhausgesellschaften mit Dumpingangeboten gegen die Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens antreten, wenn in Häfen oder Flughäfen die Tarife gedrückt werden, weil glaubhaft gemacht werden kann, dass sonst Reeder oder Airlines auf billigere Plätze ausweichen, dann geht es immer weniger um rechts/links, sondern um die pragmatische Frage: Wie lange lässt sich ein Flächentarif auf dem bisherigen Niveau noch halten, wann ist der richtige Zeitpunkt, die Fahne einzuholen und eine Etage tiefer eine neue Auffangposition aufzubauen, die vielleicht etwas länger gegen den Druck des globalen Wettbewerbs um die niedrigsten (Lohn-)Bedingungen standhält? Sicher ließe sich durch mehr Tarifkoordination, manchmal auch mehr Solidarität die Rutschpartie etwas abbremsen. Aber letztlich gilt: Meist bluffen die Arbeitgeber nicht. Der neue Wettbewerbskapitalismus ist real.

Aus dieser Position der Schwäche und Erpressbarkeit werden die Gewerkschaften erst wieder herauskommen, wenn sie sich eine alte Lektion wieder aneignen: Das Prinzip Gewerkschaft heißt Einschränkung der Konkurrenz der Anbieter von Arbeitskraft. Diese findet in immer mehr Branchen grenzüberschreitend statt. Sei es, wie im Baubereich, dass ArbeitnehmerInnen aus Portugal zu uns kommen oder dass Produktionen oder Dienstleistungen in Länder mit niedrigeren Standards abwandern. Das Kapital entzieht sich erfolgreich der nationalen Regulierung durch Sozialstaat und Flächentarif. Es entschwindet in den deregulierten Welt(arbeits)markt und entfaltet dort die produktiven und destruktiven Wirkungen, die es nationalstaatlich am Ende des letzten Jahrhunderts zum Besten gegeben hat. Wenn die Gewerkschaften, statt sich dem Kapital an die Fersen zu heften, in ihrer zugigen nationalen Kammer hocken bleiben und eine nationale Vereinigung unter dem Brandenburger Tor das Ende ihrer Fantasie ist, dann haben sie wirklich verloren.

Nicht zufällig war es IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel, dem das Wasser, das den ver.dianern erst die Hosen nässt, schon bis zum Halse steht, der nationale Gewerkschaftsfusionen für nicht „adäquat“ erklärte, um der Globalisierung zu begegnen. Er plädiert für den „Ausbau der europäischen Föderationen der Fachgewerkschaften zu echten europäischen Branchengewerkschaften“. Gemessen an dem, was hier erforderlich wäre, ist der ver.di-Prozess ein Spaziergang, ein Fusiönchen. Wie europaweit oder darüber hinaus Organisationen zusammenbringen, die teils nach politischen oder weltanschaulichen Kriterien verfasst sind, die auf ganz anderen Ebenen um soziale Standards ringen, die ganz andere Organisations- und Kampfkulturen aufweisen? Allein die Größe eines Problems ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit, es zu lösen. Immerhin, es gibt zaghafte Versuche, Tarifpolitik grenzüberschreitend zu koordinieren. Absichtserklärungen, Tarifleitlinien auf EGB-Ebene und zwischen Einzelgewerkschaften. Alles noch weit von Verbindlichkeit, gemeinsamer Willensbildung und Streikkasse entfernt.

Dabei gibt es einen kleinen Bereich selbst bei der ÖTV, der für das, was erforderlich wäre, Pilot- und Vorbildqualitäten aufweist: die Seeschifffahrt. Vor sieben Jahren ist mit der Durchsetzung des zweiten Schifffahrtregisters der Flächentarifvertrag für die deutschen Seeleute faktisch kaputtgegangen. Seither spielt sich auf deutschen Schiffen annähernd dasselbe ab, was internationaler Standard der Seeschifffahrt ist: Kapitalismus brutal: niedrigste Heuern, Lohnarbeit oft zu Sklavenbedingungen. Parallel dazu Mitgliedsverluste, fast das Ende der ÖTV in der Seeschifffahrt. Inzwischen ist es jedoch mit Unterstützung der nationalen Einzelgewerkschaften gelungen, so etwas wie eine internationale Seeleutegewerkschaft innerhalb der ITF (Internationale Transportarbeitergewerkschaft) zu etablieren. Die Seeleutegewerkschaft verzeichnet bei den Betroffenen regen Zulauf und hat inzwischen die ersten internationalen Tarifverträge mit einzelnen Reedergruppen durchgesetzt. Auch die Arbeitsbedingungen der deutschen Seeleute werden inzwischen mittelbar über die ITF geregelt. Ein globaler Flächentarif in der Branche Seeschifffahrt rückt in greifbare Nähe. Die große Freiheit der Reeder jedenfalls neigt sich ihrem Ende zu.

Wie lange lassen sich Flächentarifverträge noch auf dem bisherigen Niveau halten?

Also lieber keine ver.di? Kommt drauf an. Ein Fusionsprozess, der auf vollständige Intergration und Zentralisierung setzt, wird sich, lange bevor er fertig ist, als nationaler Anachronismus erweisen, weil er die grenzüberschreitende Organisationsentwicklung behindert. Es gibt keine belgischen oder griechischen ver.di-Gebilde, mit denen sich fusionieren ließe, dazu ist ver.di zu willkürlich konstruiert. Ein Fusionsprozess allerdings, der offen bleibt für den längst anstehenden größeren Schritt, der also grenzüberschreitend fusionsfähige Branchenstrukturen erhält oder sogar besser sortiert, der ist sinnvoll, schon weil er auch notwendig ist.

Werner Sauerborn