Zeitlos vergänglich

Durs Grünbein liest heute im Literaturhau aus seinem Lyrikband „Nach den Satiren“  ■ Von Tim Schomacker

Gibt es eigentlich noch Wunderkinder? Solche wie Mozart, die siebenjährig über Tische und mit vierzehn unter Röcke springen, so schön, dass man knapp zweihundert Jahre später einen prima Film draus machen kann. Oder – das wäre dann die bildungsbürgerliche Variante – wie Fried oder Canetti, die in und vor der Pubertät mehr Bücher lasen als so mancher Akademiker in seinem ganzen Leben? Ich glaube nicht. Muss ja auch nicht sein.

Durs Grünbein, Jahrgang 1962, eignet sich jedenfalls nicht für dieses Etikett. Trotzdem: Der jüngste Büchnerpreisträger ever! Ist doch auch was. Wer kriegt schon mit paarunddreißig eine Laudatio von Heiner Müller geschenkt. Grünbein hat sich bedankt. Herzlich vor Jahren in Darmstadt. Und reichlich in seinen Gedichtbänden. Und nun etwas neues. Das klingt so abgeklärt, dass man, wäre der Gute nicht erst Mitte dreißig, von einem Alterswerk sprechen könnte.

Alles beginnt in der Provinz. Geronnene Reiseeindrücke eröffnen „Nach den Satiren“. Der Band umfasst Gedichte aus den Jahren 1994 bis 1999. Wer aber glaubt, die Provinz fungiere als Refugium, als Ort, wo man die politische Topographie hinter sich lassen kann, irrt. Zugegeben: Zeilen wie „Die Stille um einen toten Maulwurf / Am Rand eines Weizenfelds, sie trügt“ offenbaren eine ziemlich schräge Vorstellung von Naturlyrik. Wäre doch gelacht, wenn sich auf dieser böhmischen Straße, so die geographische Einordnung, nicht doch eine Allegorie finden ließe. Zumindest ist dies dritte Provinzgedicht von der Realität längst eingeholt. „Kommandos im Eilmarsch“; der Kadaver von Gewürm umgeben, von Käfern. Und über allem der Greifvogel. Die Luftabwehr? „Vom Bauchfell / Tragen fliegende Händler (oder sind es Reporter) / Die Botschaft in alle vier Winde: Ein Aas, ein Aas!“ Als ob die Medienrealität der Kriege sich bereits ins Tierreich eingeschlichen hätte.

Satiren, sagt das Lexikon hölzern, seien ursprünglich Stegreifdichtungen gegen den Verfall einer Stadt. Spontanes findet sich bei Grünbein allerdings nicht. Die Texte wirken wie immer durchgearbeitet bis zu einer Perfektion, die mitunter den Eindruck kalter Erstarrung hinterlässt. Und was bedeutet die zeitliche Bestimmung? Nach den Satiren. Kommt jede Hilfe zu spät, sei sie sprachlicher oder sonstwelcher Art? Stets betont der Autor, wie gern er die Ideologien hinter sich gelassen hat. Erneut hebt er an zum posthistorischen Rundgang durchs „Schlachthaus Europa“.

Genüsslich stochert er im Geschichtsmüll wie in dem, was von der (Dicht-)Kunst übrigbleibt. „Und dass es Tod nicht gibt, nur Tote... endlich war / Auch diese Einsicht nah.“ So heißt es in der Abteilung „Nachbilder. Sonette“. Zeitlose, fast mythische Vorstellung von Vergänglichkeit. Nach den Satiren ist nicht allein zeitlich zu verstehen, sondern auch als eine Bewegung des ,Hinterherschreibens'. In Anlehnung an Juvenalis deutet der Autor die Randbereiche zwischen Wachheit und Traum, zwischen Schlaf und Schlaflosigkeit aus.

Grünbein baut seine Texte um Momente herum, als Annäherung an das im Moment des Denkens oder Fühlens bereits Vergangene. „Nicht zu begründen ins Letzte“, schrieb er einmal, „lässt jeder Schreibakt sich nur auf die Reizbarkeit eines einzelnen Irrläufers zurückführen.“ Das Dichten nur erweiterte neurochemische Reaktion? Das nun auch nicht. Dennoch: Grünbein kehrt oft den Blick um. Vom Wort, mit dem Wort in den Körper eindringend, hat er schon immer mit Vorliebe seziert. Geschichte genauso wie den Menschen.

An die „Schädelbasislektionen“ von 1991 knüpft er im letzten Abschnitt „Physiognomischer Rest“ an, der knapp die Hälfte des Bandes umfasst. Was bleibt, ist eben dieser Rest, eine Art Körpertopographie. Was leblos ist, oder zumindest kurz davor, fasziniert. „Auch dieses Kinn, das du manchmal im Spiegel siehst, / Wird man irgendwann finden, den Knochen dazu, / Unter anderen Knochen.“ Meditationen über die Vergänglichkeit, in denen erneut der archäologische Blick direkt auf die Gegenwart zielt, Zeiten kurzschließt. Solche Momente sind es, die zeigen: Es lohnt sich, sich Weg durchs Gestrüpp der Belesenheit des Autors zu bahnen.

Und manchmal klingt es fast nach einem Liebesgedicht. „Ohr an Ohr durch die Nacht / Selig segelnd, ein Paar / Schräger Vögel, was haben / wir vorm Schlaf schon gelacht.“ Das Gedicht heißt – nicht gerade Grünbeins Lieblingshaltung: „Unbekümmert, anderntags, Verse“. In eben jenen lehnt sich Grünbein ein ums andere mal zurück. Findet zu einer Ruhe, die er bisher allein in dem kleinen, skurrilen Bändchen Den Teuren Toten an den Tag gelegt hat. „Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen/Aufrecht vorm Fernseher (...) Es war ein fraglos schönes Ende“. Stimmt.  

heute, Literaturhaus, 20 Uhr

Durs Grünbein, Nach den Satiren. Gedichte., Frankfurt/M 1999, Suhrkamp, 230 Seiten. 38Mark