Wunder von Vallecas

Madrids fußballerisches Aschenputtel Rayo Vallecano verteidigt beharrlich die Spitze der spanischen Liga    ■ Aus Madrid Peer Vorderwülbecke

Verkehrte Welt in Spaniens Primera Division. Vorn stehen weder Real Madrid noch der FC Barcelona, sondern Tabellenführer ist Rayo Vallecano, Aufsteiger aus dem Madrider Arbeiterviertel Vallecas. Seit Wochen wartet die ganze Liga auf den Absturz des Senkrechtstarters, doch der steht trotz der unglücklichen 2:3-Niederlage gegen Real am letzten Spieltag weiter oben. „Rayo fühlt sich wohl, wo es gerade ist, und es gibt niemanden, der Rayo aus dem Paradies vertreiben kann“, kommentiert die renommierte spanische Tageszeitung El Pais.

Barça holt sich nach den triumphalen Champions-League-Auftritten regelmäßig eine Watsche in der Liga ab und ist auf Platz fünf abgerutscht. Real schleppt sich seit Wochen durch seine Krise und steht lediglich auf Rang acht. Der lachende Erste bleibt Rayo Vallecano, seit jeher der klassische Underdog in Madrids Fußballwelt. Seine Glanzzeit hatte der „Blitz aus Vallecas“ (so die Übersetzung von „Rayo Vallecano“) Ende der 70er-Jahre, als er den zehnten Platz erreichte. In den Achtzigern dümpelte die Mannschaft in der zweiten Liga herum, stürzte sogar ein Jahr in die dritte ab. Rayos Aufschwung in den letzten Jahren ist eng mit José Maria Ruiz-Mateos verknüpft. Nachdem der biedere Arbeiterclub 1992 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, erstand Ruiz-Mateos die Aktienmehrheit und übernahm das Präsidentenamt. Der schillernde Unternehmer, der über ein unüberschaubares Firmenkonglomerat herrscht, saß Anfang der Achtzigerjahre in Deutschland in Auslieferungshaft und wurde später in Spanien wegen eines Betrugsskandals verurteilt. Die Mannschaft mit dem Blitz auf dem Trikot leistet er sich als Privatvergnügen. Der Präsident sanierte die Clubkasse und hievte die Mannschaft so in die „primera división“. Nach dem Abstieg 1994 übernahm mit Teresa Rivero – einmalig in der Geschichte des spanischen Profifußballs – eine Frau die Führung des Vereins. Die neue Präsidentin, eine Dame, die anerkanntermaßen von Fußball nicht die leiseste Ahnung hatte, ist die Ehefrau von Ruiz-Mateos. Die Mutter von dreizehn Kindern ist seither zu einer Fußball-Fanatikerin mutiert und hat bislang kein Spiel ihrer Mannschaft versäumt.

Ruiz-Mateos, der nach wie vor alle Fäden in der Hand hält, freut sich derweil diebisch über den Erfolg seines Teams. „Am besten für Real wäre es, wenn Lorenzo Sanz seine Frau zur Präsidentin machen würde“, kommentiert er süffisant die Krise der Königlichen mit ihrem Präsidenten Sanz, der allein für Neuzugang Nicolas Anelka mehr als dreimal so viel bezahlt hat, wie der gesamte Saisonetat von Vallecano beträgt. „Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Situation in Madrid ändert und Real eine Filiale von Rayo wird“, diktiert Ruiz-Mateos den Journalisten und grinst über beide Ohren.

Obwohl Rayo diese Saison zum vierten Mal in den vergangenen zehn Jahren der Sprung in die „primera división“ geglückt ist, hat sich der Club keinen angestammten Platz in der fußballverrückten Hauptstadt erobern können. Selbst im eigenen Stadtteil Vallecas, mit einer Million Einwohnern der größte in Madrid, wird die Fahrstuhlmannschaft von den Fans fast vollständig ignoriert. Vallecas ist wie ganz Madrid in zwei Lager geteilt: Madridistas und Atléticos. Rayistas sind eine verschwindend kleine Minderheit. Um nicht mit den beiden Giganten zu kollidieren, spielt der Club manchmal sogar Sonntag vormittags. Trotz der größten Erfolgsserie in der Vereinsgeschichte finden durchschnittlich lediglich 10.000 Zuschauer den Weg ins Stadion. Immerhin doppelt so viele wie in der Vorsaison.

„Tabellenführer zu sein ist schön, aber wir arbeiten weiterhin an unserer Beständigkeit“, bremst Juan de Ramos vor dem sonntäglichen Gastspiel bei Mitaufsteiger CD Numancia jegliche Ambitionen in Richtung Meisterschaft. „Wir müssen viel arbeiten, wenn wir die Klasse erhalten wollen“, betet der Trainer seinen Text immer wieder herunter. Zur selben Zeit hat Clubeigner Ruiz-Mateos sechs Millionen Mark Prämien für das Erreichen der Champions-League ausgelobt. „Unser Erfolg ist kein Zufall“, versichert Ramos immer wieder. Der introvertierte Coach gilt gemeinhin als der Vater des Wunders von Vallecas. Bis auf die Routiniers Alcazar und Cota hat Ramos sich seine gesamte Stammelf in den beiden Jahren seiner Amtszeit zusammengebastelt.

Bei den astronomischen Etats von Real (240 Millionen Mark) und Atlético (200) kann der Club aus dem Arbeiterviertel mit seinem mageren Etat von 23 Millionen Mark im Kampf um Spitzenkräfte nicht mithalten. Für 4,7 Millionen Mark erwarb Rayo ein Dutzend unbekannter Spieler, darunter Gerhard Poschner, der zuletzt beim AC Venedig in Italien unter Vertrag stand. „Vieles ist hier nicht optimal organisiert, aber mir persönlich muss man auch nicht alles hinterhertragen“, sagt Poschner. Den lebenslustigen Schwaben stört es nicht, dass Rayo aus Ermangelung eines eigenen Clubgeländes auf städtischen Plätzen trainiert und selbst vor dem eigenen Stadion keine Parkplätze für die Spieler vorhanden sind. „Ich finde es lustig hier, bis jetzt macht es mir viel Spaß, und ich hoffe, es bleibt so.“