Vom Streicheln des weichen Punkts

Die Band Travis trifft ihn genau: den Solarplexus der Seele, den inneren K(uschel)-Point, das kapitalistisch tiefgefrorene Gefühlszentrum. Wie sie das macht, weiß aber nicht mal der Kopf der Band selbst. Einen Geheimkurs in Reflexzonenmassage besuchte  ■   Thomas Winkler

Worte sind ihm wichtiger als Musik, aber Bücher liest er nur in Ausnahmefällen. Er findet Popstars scheiße, aber ist gut befreundet mit den Gallagher-Brüdern. Überhaupt kann er absolut nichts dafür, dass seine Band Travis schon zum zweiten Mal Platin in Großbritannien bekam. Er hat nicht mal eine Erklärung dafür, wie man es zum Spitzenplatz der heimischen LP-Charts schaffte, geschweige denn, warum man sich seit fast einem halben Jahr in den Top Five hält.

Tatsächlich sieht es so aus: Hätte Mutter Healy den kleinen Francis im Glasgow der Siebzigerjahre nicht zum Milchholen geschickt, wären uns wohl all diese wunderschönsten Balladen zwischen hier und der Erfindung des Süßstoffs entgangen.

Denn wunderwunderschön sind sie zweifellos, die Songs von „The Man Who“, dem zweiten Album des schottischen Quartetts Travis. Ein knappes Dutzend Lieder, von denen jedes einzelne einen watteweichen Cocon spinnt aus wohliger Melancholie, süßlichem Weltschmerz und sonntagnachmittäglicher Schlappheit. Was sich erst einmal abschreckend anhört – aber irgendwie finden die Songs von Travis zielsicher den Solarplexus der Seele, jenen weichen Punkt im Menschen, der nur leicht gestreichelt werden muss, um noch den widerborstigsten Zeitgenossen zum handzahmen Träumer zu machen.

Dabei war ihr Debüt „Good Feeling“ von 1997 noch eine herzlich durchschnittliche Britpop-Platte mitten unter viel zu vielen anderen Britpop-Platten. Weil aber im Vereinigten Königreich schon seit drei, vier Jahren niemand mehr von Britpop spricht, haben Travis nun die Sorte Platte gemacht, schrieb der Melody Maker, „die das Jahr ihres Erscheinens mit definiert“. „Die britische Musikpresse hasst uns“, flüstert Healy und beugt sich dabei konspirativ über den Tisch, als sei das eine streng vertrauliche Mitteilung, „das wurde erst geschrieben, als wir bereits 150.000 Platten verkauft hatten. Diese Musikmagazine wollen auf den fahrenden Zug aufspringen.“

Dieses innige Verhältnis zur Presse verbindet sie mit guten Freunden von einer nicht ganz unbekannten Band. Ansonsten allerdings fragt man sich, was ein so ausgeglichener, freundlicher Mensch wie Healy mit Oasis zu schaffen hat. Man hat für die Gallaghers bei einer Tournee vor zwei Jahren den Einheizer gespielt und sie „dabei wirklich gut kennengelernt“. Dabei wurde entdeckt, dass die Lieblingsrauf- und -trunkenbolde der britischen Tabloids „sehr nette Menschen“ sind. Nur der Presse „präsentieren sie ihre egozentrische Seite. Sie erinnern mich an Kinder, die ihre extremen Gefühle einfach ausleben“, doziert Healy.

Er selbst pflegt neben dem Dartspiel eher harmlose, leicht exzentrische Marotten. Neben einer Schwäche für Zahlen („Letzte Nacht schliefen wir in einem Hotelzimmer mit der Nummer 222, und als wir durch die Tür kamen, stand die Uhr gerade auf 22 Uhr 22. Wir haben uns ganz schön gegruselt.“) ist es vor allem das Bekenntnis, mit Musik nicht viel anfangen zu können. Der Hauptgrund, warum er Songs schreibt und keine Gedichte, ist der, dass man sich die Dinger so einfacher merken kann. „Als ich klein war, hat mich meine Mutter immer zum Laden geschickt, einen Laib Brot holen, eine Tüte Milch. Um nicht zu vergessen, was ich einkaufen sollte, habe ich die Einkaufsliste vor mich hin gesungen. So wie Gerüche erkennt man noch nach 20 Jahren einen Song wieder, den man als Fünfjähriger gehört hat.“

Für das Songschreiben selbst lehnt Francis Healy jede Verantwortung ab. „Die Songs kommen“, sagt er, „nicht von mir, die Songs kommen durch mich.“ Wie Jesus von Nazareth spricht auch Francis aus Glasgow gern in Gleichnissen: „Musik hat viele Funktionen. Musik kann auch ein Stuhl sein, auf dem man sitzen oder stehen kann“. Dass das Medium, durch das die Songs zum Klingen kommen, in einem lustigen schottischen Dialekt spricht, scheint die Songs nicht zu stören. „Wir wissen“, sagt Healy – und es ist nicht ganz klar, ob er mit „wir“ die Band, sich und die Songs oder bloß allein Francis Healy meint –, „wir wissen, was wichtig ist. Ruhm ist bloß Nonsens und Popstar-Dreck.“

Wenn man den schmalen Mann mit den schon leicht ergrauten Schläfen so ansieht, glaubt man ihm aufs Wort: Eher schon sieht Grobi aus der Muppetshow, der einen von Healys mausgrauem T-Shirt aus mit großen Knopfaugen mustert, wie ein Popstar aus. Auf einem Promofoto versteckt Healy sich unter einer Pelzmütze mit Ohrenklappen, auf einem anderen wird sein Gesicht zur Hälfte von einem Halstuch verdeckt, und auf dem dritten gähnt er. Mit fünf Jahren soll er seiner sich sorgenden Mutter mitgeteilt haben, sie möge keine Angst um den Sprössling haben: „Ich werde einmal ein Star sein.“ Heute ist er stolz darauf, auf der Straße nur sehr selten erkannt zu werden. Von ihm selbst in die Welt gesetzt wurde die Geschichte, dass er eines Tages im Radio einen Song hörte, den er für die neue Single von Radiohead hielt, aber nach zwei Minuten feststellen musste, dass er von seiner eigenen Band stammte.

Die Band hat sich natürlich nicht etwa nach dem verstörend brutalen Travis Bickle aus „Taxi Driver“ benannt, sondern nach dem von Harry Dean Stanton gespielten, reichlich schweigsamen Travis Clay Henderson in „Paris, Texas“. Selbst die Teenies, die kichernd vor dem Berliner Hotelzimmer warten, in dem das Interview stattfindet, und die man als erste Anzeichen für eine bundesdeutsche Travis-Hysterie eingeschätzt hatte, entpuppen sich kurz darauf als Verwandte der deutschen Freundin von Healy und werden vom Popstar höchstselbst herzlich umarmt.

Wahrscheinlich liebt Britannien sie deshalb so innig: Ihre Songs mögen noch so romantisch und verträumt sein, dieser Band nimmt jeder ab, dass sie fest auf dem Boden des Königsreichs bleibt, wo man seine Exzentrik pflegen darf, solange man es nicht damit übertreibt. Healy, Bassist Dougie Payne, Trommler Neil Primrose und Gitarrist Andy Dunlop sind Jungs, wie man sie in Glasgow und wahrscheinlich selbst in Hannover an jeder Straßenecke pflücken könnte. Für Healy sind er und seine Kumpels „glückliche Menschen, weil wir gute Menschen sind und positive Energie ausstrahlen“. Und er meint das ganz unironisch. So gesehen sind sie so etwas wie die Pur Britanniens.

Glücklicherweise machen sie – auch wenn das zugegebenermaßen nicht allzu schwierig ist – die wesentlich bessere Musik. Auf der Suche nach einer Erklärung für den überwältigenden Erfolg fällt Healy dann auch nur ein Wort ein : „Magie.“

Travis: „The Man Who“ (Independiente/Sony)

Rolling Stone -Roadshow mit Travis, Ben Folds Five und Gay Dad: 25. 11. Offenbach, 26. 11. München, 28. 11. Stuttgart, 29. 11. Köln, 1. 12. Berlin, 2. 12. Hannover, 3. 12. Hamburg, 5. 12. Leipzig, 6. 12. Münster