Wenn der Satan von sich hören lässt

Am Samstag wusste jeder im Dorf: Nicole liegt nicht mehr in ihrem Sarg. Ab Samstag wusste jeder im Dorf: Die Leiche wurde gefunden, nicht gefunden, einem Hund wurde der Kopf abgehackt, nicht abgehackt ...  ■   Aus Buttenheim Heike Haarhoff

„Eine Hochzeit kann kippen. Aber eine Beerdigung, das ist 'ne todsichere Sache, eine Beerdigung findet immer statt.“

An Gottes Segen ist alles gelegen. Hauswand, Buttenheim 1999

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Wer hierher kommt, hat einen Grund.

Es hat geschneit im Oberfränkischen, und die Reifen mühen sich, den steilen Berghang nicht wieder hinabzurutschen. Meter um Meter fräsen sie sich aufwärts, vorbei an Stoppelfeldern, durch ein kurvenreiches Wäldchen. Nach einer Viertelstunde Fahrt ein verwitterter Wegweiser: „Bergkapelle“.

Ein Häuschen, Grundfläche gut zehn Quadratmeter. Die Eingangstür ist unverschlossen. Im Innern vier Holzbänke, Kruzifixe, eine hölzerne Maria, die ihren geschnitzten Sohn im Arm hält und eine Luft, die nach langjähriger Abwesenheit müffelt.

Es soll Besucher gegeben haben.

Der Pfarrer von Eggolsheim erzählt von umgekippten Bänken vor ein paar Jahren und Kreuzbildern, die am Boden lagen. Der Bürgermeister aus dem Nachbardorf Buttenheim spricht von gestohlenen Leuchtern, Figuren und einem verschwundenen Holzaltar im vorigen Jahr. Der Leitende Oberstaatsanwalt aus Bamberg berichtet über Antiquitätendiebstähle im Raum Forchheim. Der Polizist Joseph Kohlmann erinnert sich an fehlende Kerzenleuchter, so etwa vor fünf Jahren im Herbst. „Mehr war da nicht.“

Oder doch? Es gab diesen Mann, der in den Weihwasserkessel pinkelte, aber das war 1998 und ereignete sich nicht in der Bergkapelle, sondern in der katholischen Kirche von Eggolsheim, und außerdem, sagt der Polizist Joseph Kohlmann, war das ein Kosovo-Albaner, und der leistet jetzt in seiner Heimat Wiederaufbauarbeit.

Kein Grund also, diesem Geschwätz der Leute unten in den Dörfern über Satanskult, schwarze Messen und grässliche Rituale mit gestohlenen Leichen Glauben zu schenken. Kein Grund, das Ansehen der kleinen Orte zwischen Bamberg und Nürnberg stärker in Verruf zu bringen, als es die Medien ohnehin jetzt tun.

Sicher ist nur eines: Die Bergkapelle von Eggolsheim hat etwas mit „dem Fall“ zu tun – oder auch nicht. Wie alles, was dieser Tage im Oberfränkischen diskutiert wird, in einem oder keinem Zusammenhang mit „dem Fall“ steht.

Der Fall. Johann Kalb braucht zwei Zigaretten, bevor er in seinem Bürgermeisterzimmer in Buttenheim darüber sprechen mag: „Da denkst du, du lebst hier in einer heilen Welt, während anderswo einer seine ganze Nachbarschaft niederballert oder einer seine Lehrerin ersticht.“ Und dann kommt an diesem schönen Samstagmorgen vor einer Woche der Totengräber aus deiner beschaulichen 3.000-Seelen-Gemeinde vom Friedhof zu dir nach Hause gerannt und bricht fast vor dir zusammen, weil die Leiche weg ist, die gerade beerdigt werden sollte. Die Leiche der 14-jährigen Nicole aus Altendorf, Verwaltungsgemeinschaft Buttenheim. Verschwunden, heimlich aus dem Sarg herausgenommen, aus der Friedhofskapelle entführt, von Unbekannten.

Die Tat hätte keiner bemerkt, hätte die Bestatterin nicht noch einmal den Sarg geöffnet, damit Nicoles Eltern sich von ihrer verunglückten Tochter verabschieden konnten. Nicole war Anfang der Woche am Bahnsteig in Buttenheim von einem Zug erfasst worden. Aber statt des Mädchens waren am Samstag nur noch zwei Puppen im Sarg.

Spuren? Nein, nichts, kein Fenster eingeschlagen, keine Tür aufgebrochen, na gut, das Eisenschloss war auch mit einem Dietrich zu knacken. Aber wem die Totenruhe nicht heilig ist, den hält auch kein Schloss auf. Sogar der Sarg war wieder ordentlich mit allen sechs Schrauben verschlossen, so, wie ihn die Bestatterin am Donnerstag in der Kapelle eingeschlossen hatte. Nicoles Mutter ohnmächtig, 100 Trauergäste, die irgendwer nach Hause schicken müsste, die Kripo schon vor Ort ...

Der Totengräber überschlägt sich, und dir wird klar, dass das Leichenraub und pervers ist. Die schöne Pressekampagne zur Eröffnung des Museums für den Jeanskönig Levi Strauss, 1819 in Buttenheim geboren, wirst du vorerst vergessen können.

Die Medien werden über Buttenheim herfallen, und sie werden den Namen Buttenheim berühmt machen, auf eine Art.

Die Kamerateams lauern überall. Sie stellen dem Totengräber und der Bestatterin nach, weil die als einzige neben der Gemeindeverwaltung Schlüssel für die Friedhofskapelle besaßen. Sie stürmen das Büro des Bürgermeisters und fragen, ob der das polizeiliche Führungszeugnis des Totengräbers kenne. Sie filmen die Freundinnen, die an der Unfallstelle am Bahnhof rosa Rosen niederlegen. Sie belügen Nicoles Mutter so lange, dass es zur Aufklärung des Verbrechens hilfreich sein könnte, wenn sie öffentlich erklärt: „Gebt mir den Leichnam meiner Tochter wieder“, bis die Mutter sich im Interesse der Einschaltquote überwindet.

In den ersten Tagen mochte das noch befriedigen, aber heute ist schon Freitag, und fast eine Woche nach ihrem Verschwinden gibt es von der toten Nicole immer noch keine Spur. Seit sechs Tagen fahnden Polizei und Staatsanwaltschaft; die zuständige Polizeidirektion Bamberg hat eine achtköpfige Arbeitsgruppe eingesetzt. Die Streifzüge zu Fuß, im Wagen und im Hubschrauber brachten nur eine Erkenntnis: Die Leiche scheint nicht auffindbar. Inzwischen haben die Beamten ihre Sucherei zu Fuß so gut wie eingestellt. „Wir haben nicht einmal Anhaltspunkte, wo wir anfangen sollten.“ Man hoffe auf Hinweise aus der Bevölkerung. Gegen 3.000 Mark Belohnung.

Vielleicht war das der Startschuss. Vielleicht war das die Ermutigung, in Buttenheim, wo von 100 Einwohnern 88 der katholischen Kirche, dem örtlichen Fußballverein, der CSU sowie den vier Brauereien die Treue halten, endlich all das auszusprechen, was in Zeiten, da keine Leichen geraubt werden, vermutlich nicht einmal der Pfarrer bei der Beichte zu hören bekommt.

Der Teenie aus dem Schulbus erinnert sich plötzlich an diesen komischen umgebauten Leichenwagen, der öfters in einer Nachbarstraße von Nicoles Wohnung gestanden habe. Ob das stimmt oder nicht, spielt keine Rolle. Weiter kommt er sowieso nicht, denn jetzt will sein Kumpel auch mal was erzählen, und zwar von dem Hund, dem jemand den Kopf abgeschlagen hat und dessen blutiger Schädel dann aufgespießt an einem Kruzifix am Ortsausgang endete. Je gruseliger, desto besser.

„Die schreckliche Ungewissheit darüber, wer die Leiche warum gestohlen hat, und das Bedürfnis, diese Ungewissheit zu beenden, kann zu den wildesten Theorien führen.“ Klaus Schwab kann das gut nachvollziehen. Ihm sitzt der Schrecken noch in den Gliedern, hier auf der Couch in seinem Wohnzimmer, weit weg von der Ortsausfallstraße in Buttenheim, wo zwischen Donnerstag abend und Samstag morgen ein Profi in Sachen Einbrechen sich der toten Nicole bemächtigt haben muss. Klaus Schwab ist der Theologe, der Nicole beerdigen sollte. „Eine Hochzeit kann kippen“, sagt er. „Aber eine Beerdigung, das ist 'ne todsichere Sache, eine Beerdigung findet immer statt.“

Doch nun ist dieses Tabu in Buttenheim gebrochen, und mit ihm auch das, worüber man eigentlich schweigt.

„Die schreckliche Ungewissheit und das Bedürfnis, diese zu beenden, können zu den wildesten Theorien führen.“

Schon einmal, glaubt ein Mann an der Bushaltestelle zu wissen, sei ein Leichnam ausgebuddelt worden, und zwar im Nachbarort Hirschaid, wo Nicole ja zur Schule ging, und dem hätten sie dann den Kopf abgehackt. Oder geschah dies gar nicht in Hirschaid, sondern in Peine bei Hannover, wo vor einem Monat tatsächlich das Grab eines 13-jährigen Mordopfers geschändet worden ist?

Oder war das mit dem Ausbuddeln alles nur ein Versuch, wie im Oktober am Grab eines Jugendlichen in Hessen? Ist die 14-jährige Nicole nicht längst aus einem Baggersee geborgen worden, worauf der Taxifahrer schwören möchte?

Egal. Es hat so viele Buttenheims gegeben, andernorts. In Sondershausen in Thüringen erdrosselten 1993 drei „Kinder des Satans“, ansonsten Gymnasiasten, ihren 15-jährigen Mitschüler. In Berlin zerrten Unbekannte 1995 einen Siebenjährigen, der bei einem Verkehrsunfall verunglückte, aus dem Sarg und bahrten ihn in einem Mausoleum auf. In Dortmund verwüsteten Satanisten das Grab von Zwillingen; in der Kirche St. Katharinen in Finsterwalde sprayten Unbekannte Satanszeichen auf Kanzel und Wände, ramponierten Bilder vom Abendmahl und stellten das Kreuz auf den Kopf.

Seit das in Buttenheim die Runde gemacht hat, ist es vorbei mit der Ruhe. Wer länger als gewöhnlich über den Friedhof streift, wird mit einem misstrauischen „Grüß Gott, was suchen S' denn“ bedacht. Der katholische Pfarrer verweist Menschen, die ihm mit dem Teufelsthema kommen, neuerdings unter Wuttiraden des Hauses. Vorbei die Zeit, da die Buttenheimer Pensionen die Schlüssel für ihre Gäste sorglos unter der Fußmatte deponierten.

Nur die Arbeiter aus der Fabrik, die treffen sich wie gewohnt weiter nach Feierabend in der Kneipe. An Gesprächsstoff mangelt es nicht: ob Nicole wirklich einem Zugunglück zum Opfer fiel – was im Obduktionsbericht steht. Aber weiß man's? Fakt ist, dass vor einiger Zeit in der Gegend ein Pärchen Selbstmord begangen hat. Das lief immer schwarz gekleidet rum und hatte „aah nex zu tun“. Prompt gab es diese Hinweise auf Kultismus und schwarze Messen. Und dann die Vorfälle in der Bergkapelle von Eggolsheim. Und was bitte bedeutet dieser „Satan forever“-Schriftzug an der Hintertür von Nicoles Schule in Hirschaid?

Eine Schmiererei, wie es sie landauf, landab gibt, beteuert der Schulleiter. Ein Grund, „wirklich in alle Richtungen zu ermitteln“, versichert die Polizei. Alles andere als ein schlagkräftiger Beweis für Okkultismus oder Satanismus, sagt der Sektenbeauftragte der Erzdiözese Bamberg. Was nichts daran ändere: Wer Leichen klaut, muss mit großer Wahrscheinlichkeit ein Täter „in höchst psychopathologischer Verfassung“ sein.

Die Polizei Bamberg hat einen Fahndungsaufruf verteilt. Der hängt nun draußen an der Amtstafel der Gemeindeverwaltung, eingerahmt von den Tierseuchenbeiträgen für das Jahr 2000 und den Terminen der katholischen Erwachsenenbildung. Der Bürgermeister sagt, dass die Normalität zurückkehren wird nach Buttenheim.