Als Tschetschenin in Moskau

Die Psychologin Sarema flüchtete im letzten Krieg in die russische Hauptstadt. Inzwischen hat die Familie trotz der Diskriminierung dort Fuß gefasst  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Sarema hat Tschetschenien Neujahr 1995 verlassen. In der Neujahrsnacht hatten russische Truppen versucht, Grosny zu stürmen. Der Angriff endete für hunderte russische Soldaten mit dem Tod. Die Luftwaffe übernahm, was die Infanterie nicht leisten konnte. Bombenteppiche verwandelten Grosny in einen Trümmerhaufen. „Unsere ganze Sippe flüchtete damals“, erzählt die Vierzigjährige, „wir waren 97 oder 98 Personen. Kinder, Alte und Frauen fuhren mit einem Bus über Schleichwege. Die Männer kamen mit PKWs hinterher“.

Sarema ging mit ihrer Familie, dem Mann und drei Kindern, nach Moskau. Inzwischen wohnt die Familie in einer Eigentumswohnung, und Sarema hat noch ein Mädchen zur Welt gebracht. „Nach zwei Jahren hatten wir halbwegs Fuß gefasst, das Kind war ein Zeichen unseres wiedergewonnenen Optimismus.“ Das Geld für die Wohnung hat die tschetschenische Diaspora in Moskau vorgestreckt. „Aus eigenen Stücken hätten wir das nicht geschafft.“

Seit den Terroranschlägen in Moskau im September hat sich das Leben verändert. „Wieder macht man uns von höchster Tribüne aus zu Sündenböcken“, sagt sie leise, ohne Hass. Sarema wurde 1959 in Grosny geboren, ein Jahr nachdem ihre Eltern aus Kasachstan, wohin Stalin das ganze Volk 1944 über Nacht deportieren ließ, in die Heimat zurückgekehrt waren. Sie hegt keinen Groll gegen die Russen, obwohl sich das Land zur Zeit am kollektiven Hass auf alles Dunkelhäutige und -haarige berauscht. Seitdem die russische Armee den neuen Feldzug führt, haben Verwandte bei Sarema Unterschlupf gesucht. Viele waren nach dem Frieden von Chassawjurt 1996 nach Hause zurückgekehrt. „Ich habe dem Frieden nicht getraut“, sagt Sarema, die nach ihrem Philologiestudium in Grosny einige Jahre als Journalistin gearbeitet hat. Schon vor dem Studium stieß sie auf Schwierigkeiten. „Trotz sehr guter Noten erhielt ich keinen Studienplatz.“ Sie gab nicht auf und absolvierte ein Abendstudium. Die Eintragung unter Punkt fünf – „Nationalität“: Tschetschenin – im sowjetischen Pass war auch nach der Uni ein Hindernis. Aufstiegsmöglichkeiten hätten nur die wenigsten Tschetschenen im sowjetischen Völkerparadies.

Ende der achtziger Jahre legte sie noch ein Diplom in Psychologie ab. Sarema brachte es bis zur Leiterin eines großen Kindergartens in Grosny, aber nur dank der Protektion einer befreundeten Russin. „Am 11. November 94 habe ich alle Mitarbeiter in den unbefristeten Urlaub geschickt.“ Es war der Tag, nachdem ein russischer Stoßtrupp zum ersten Mal in Grosny eingedrungen war. Ein Vorbote des Krieges. Inzwischen steht der Kindergarten nicht mehr, auch das Haus der Familie fiel der Feuersbrunst zum Opfer.

Das erste Jahr in Moskau glich einem Canossagang. Die Bürokratie weigerte sich, der Familie den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Ohne das Papier sind Bürger der Willkür der sogenannten Ordnungskräfte ausgesetzt. „Was für mich schlimmer war“, meint sie, „ich konnte die Kinder in keiner Schule anmelden.“ Schließlich klappte es mit der heißbegehrten permanenten Aufenthaltserlaubnis in Moskau. Die willkürliche Zuzugsbegrenzung verstößt gegen die russische Verfassung, dennoch hält Bürgermeister Juri Luschkow an der diskriminierenden Praxis fest. Das Wohnrecht löste indes nicht das Schulproblem. „Ich wollte kein Bestechungsgeld bezahlen und habe zig Instanzen abgeklappert.“ Am Ende hat es geklappt. „Als ich die Kinder in der Schule anmeldete, hat mich die Direktorin angeschaut, als brächte ich einen Schwerverbrecher.“

Wie es weitergehen wird? Sie zuckt mit den Schultern. „Zurück nach Tschetschenien können wir nicht. Und hier? Wird sich die Hysterie legen oder mit den Wahlen noch zunehmen?“ Immerhin hat ihr ältester Sohn den Sprung an die Universität geschafft, während andere tschetschenische Studenten gezwungen werden, „freiwillig ihre Relegation zu beantragen“. „Wir leben nur noch von einer Nachrichtensendung zur nächsten“, seufzt Sarema, „mein Herz macht mir immer mehr zu schaffen ...“