Geschrei über die Menschenrechte“

■ Gennadi Sjuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Russlands, unterstützt den Kampf gegen die „Banditen und Terroristen“ in Tschetschenien und macht die Doppelmoral des Westens für das Unglück des russischen Volkes verantwortlich

taz: Jüngsten Umfragen zufolge liegt Premierminister Putin weit vor allen anderen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen. Heißt der neue Präsident Russlands Wladimir Putin?

Gennadi Sjuganow: Einer neuen Umfrage zufolge liegt Putin jetzt bei 10 bis 12 Prozent. Was Umfragen betrifft, so werden sie bei uns als besonderes Mittel angewandt, mit denen Druck auf die öffentliche Meinung ausgeübt werden soll. Das ist eine große Lüge, die ein wichtiges Instrument der Führung in unserem Land ist. Was Putin anbetrifft, so hat er bis jetzt noch nicht zu einer einzigen wichtigen Frage Position bezogen: wie die Wirtschaft wieder aufgebaut werden soll, wie die nationalen Fragen gelöst werden sollen, wie ein günstiges Klima für Investitionen geschaffen werden soll. Seit seinem Amtsantritt hat sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert. Das alles ist ein Spiel, verbunden mit dem schlechten Gesundheitszustand Jelzins und dem Versuch, Putin als seinen Erben zu lancieren.

Auch wenn die Umfrageergebnisse manipuliert sind: Muss man in Russland erst Krieg führen, um populär zu werden?

Der Krieg wurde vor fünf Jahren von Jelzin begonnen und von seiner Umgebung unterstützt. Kritik an diesem Krieg habe ich niemals gehört, auch von Putin nicht. Was jedoch den Kampf gegen die Banditen und Terroristen anbetrifft, so hat das die Gesellschaft schon seit langem gefordert. Vor dieser Aufgabe stehen wir jetzt.

Ist der Krieg das richtige Mittel, um die Probleme im Nordkaukasus zu lösen?

Da muss man unterscheiden: Das eine ist der Kampf gegen die Banditen und Terroristen. Den müssen Profis führen, Militärs, Spezialeinheiten und der Geheimdienst. Was eine Gesamtpolitik im Nordkaukasus angeht, so gibt es sie nicht. Die Probleme im Nordkaukasus können auf militärischem Wege nicht gelöst werden.

In Russland mehren sich Stimmen, die das Vorgehen in Tschetschenien kritisieren. Dazu gehört Jabloko-Chef Grigori Jawlinski, aber auch Ex-General Alexander Lebed. Eins ihrer Argumente ist, dass Russland Gefahr läuft, Tschetschenien ganz zu verlieren. Besteht dieses Risiko?

Heute besteht das Risiko eines Auseinanderfallens der Russischen Föderation. Dieses Risiko bringt nicht nur innerrussische Gefahren mit sich, sondern hat globalen Charakter. Daher sollte Europa dem ein Maximum an Aufmerksamkeit widmen und dazu beitragen, dass es der russischen Föderation gelingt, mit dem Terrorismus und der Korruption fertig zu werden. Doch leider sehe ich häufig die umgekehrte Reaktion.

Als Jelzin und seine Mannschaft diesen Konflikt angeheizt und den Krieg begonnen haben, haben ihn alle unterstützt. Aber jetzt, wo die Militärs versuchen, die Banden zu lokalisieren, erhebt sich plötzlich Geschrei über die Einhaltung der Menschenrechte. Dieser doppelte Standard des Westens hat unser Volk bereits ins Unglück geführt.

Ich bin dafür, dass die Menschenrechte streng eingehalten werden, dass nicht einer Frau, einem Kind oder einem alten Menschen etwas zuleide getan wird. Aber die Spezialeinheiten dürfen nicht davon abgehalten werden, die Banditen zu bekämpfen.

Einige Generäle haben mit Rücktritt gedroht, sollten Friedensverhandlungen aufgenommen werden. Regieren die Militärs Russland?

Das ist falsch. Doch die Militärs haben bittere Erfahrungen machen müssen, sie wurden von den Politikern verraten. Wie viele Male hat man sie in den Rücken geschossen, vor allem Jelzin und seine Umgebung! So hatten sie das Problem mit den Banditen schon im Griff, da hieß es Stopp!, und alles fing von vorne an. Die Banden entwickelten sich, breiteten sich aus, legten ganze Regionen lahm, plünderten und bestahlen hunderte von Menschen.

Welche Strategie verfolgen denn die Militärs und Politiker jetzt in Tschetschenien?

Die Militärs müssen nur einer Strategie folgen: Minimale eigene Verluste und maximale Anstrengungen im Kampf gegen die Banditen. Die Politik muss dem komplexen Charakter des Problems Rechnung tragen. Das heißt, alles dafür zu tun, dass in den befreiten Zonen die Schulen und Kindergärten funktionieren, dass Renten und Gehälter ausgezahlt werden, mit anderen Worten: normale Lebensbedingungen herstellen. Zum Beispiel in Gudermes, das befreit wurde. Die Bevölkerung von Gudermes selbst hat gefordert, dass die Banditen den Ort verlassen. Heute unterstützen sie aktiv die Aktionen des Militärs.

Interview:‚/B‘ Barbara Oertel