Freiheit für die Feinde der Freiheit

1949 wurden in das Grundgesetz Artikel aufgenommen, die antidemokratische Kräfte aus der demokratischen Konkurrenz um Macht ausschließen sollten. Mit deren Hilfe wurde ein Klima von Einschüchterung geschürt. Ein notwendiger Nachtrag zu den Feiern des 50. Geburtstags der Bundesrepublik von Horst Meier

Für die Zukunft wird es ein ungeheurer Unterschied sein, ob ihr Deutsche selbst den Mann des Schreckens, diesen Hitler, beseitigt oder ob es von außen geschehen muss.“ In seinen von der BBC ausgestrahlten Ansprachen hat Thomas Mann bis zuletzt die moralische Notwendigkeit eines Aufstandes gepredigt, an dessen politische Möglichkeit er immer weniger glaubte. Wie die Sache ausging, ist bekannt. Es musste „von außen“ geschehen.

Den Bruch, der neuen Verfassungen vorauszugehen pflegt, führten die Armeen der Antihitlerkoalition herbei: Die deutsche Nachkriegsverfassung erwuchs nicht aus einer revolutionären Selbsteroberung. Nun geriet der Unterschied zwischen erkämpfter und aufgezwungener Freiheit nicht so ungeheuer, wie Thomas Mann befürchtete. Es gibt aber einen Unterschied, der bis heute nachwirkt – und zwar im Allerheiligsten: in der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ des Bonner Grundgesetzes.

1948/49 war in „Trizonesien“ unter alliierter Aufsicht das paradoxe Werk zu vollbringen, einem demoralisierten Volk, das als Souverän gar nicht existierte, eine demokratische Verfassung zu geben. Im August 1948 tagte ein von den westdeutschen Ministerpräsidenten eingesetzter Expertenausschuss und legte alsbald den Entwurf zu einem Grundgesetz vor. Die Sachverständigen wollten eine allgemeine Pflicht zur Verfassungstreue für jedermann statuieren. Hinzu kamen ins Detail gehende Reglementierungen des individuellen und kollektiven Gebrauchs der politischen Freiheit: Grundrechte sollten verwirkt sein, sobald sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung „missbraucht“ würden.

Aus ähnlichen Gründen plante man das Verbot politischer Organisationen, die „verfassungswidrige“ Ziele propagierten. Allem lag die Befürchtung zugrunde, ungezügelte Freiheit müsse zu deren Selbstzerstörung führen. Deshalb wollte man die Demokratiegegner vorsorglich „von den demokratischen Spielregeln ausschließen“. Die Sachverständigen betonten: „Es bedarf keiner Darlegung, dass jede Demokratie, die in diesem Punkt achtlos ist, in Gefahr steht, selbstmörderisch zu werden.“

Aus dem merkwürdig doppeldeutigen Schlagwort von der „Demokratie als Selbstmord“ spricht die Gewissheit, man werde die verfassungspolitische Konsequenz aus dem Untergang der Weimarer Republik ziehen. Dabei konstituierte die in Verruf geratene Weimarer Reichsverfassung, anders als die Kolportage weiß, keine „wehrlose Republik“. Gleichwohl hat der Parlamentarische Rat, in den die westdeutschen Länderparlamente Delegierte von CSU bis KPD entsandten, die Richtungsentscheidung des Expertenausschusses glatt in das Grundgesetz übernommen: Beredtes Zeugnis dafür sind die Grundrechteverwirkung in Art. 18 und das Parteiverbot in Art. 21 Abs. 2.

Diese Artikel, anderen demokratischen Verfassungen unbekannt, wurden später unter dem Begriff der „streitbaren Demokratie“ zusammengefasst. Eine andere Regelung trieb das Sicherheitsbedürfnis auf die Spitze: Das Parlament wurde ein für allemal auf die Ideen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde festgelegt. Mit der so genannten Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 wollte man sogar jene Zweidrittelmehrheit binden, die gewöhnlich berechtigt ist, die Verfassung zu ändern. Als ließe sich die „legale Revolution“, ein Problem, mit dem jede Demokratie leben muss, durch juristische Zwirnsfäden bändigen!

Was im Blick zurück fragwürdig ist, erschien damals in allen politischen Parteien als selbstverständliche Notwendigkeit. Die Zeit der Massenaufmärsche und vollbesetzten Sportpaläste war den wachen Zeitgenossen irritierend gegenwärtig. Gerade diejenigen unter ihnen, die aus dem so hoffnungslos isolierten Widerstand kamen, hatten eine Ahnung davon: Das Dritte Reich war nicht nur eine brutale Diktatur gewesen, die jede Opposition im Keim erstickt hatte, sondern eben auch eine „funkensprühende Revolution“, wie Thomas Mann formulierte. Wer wagte damals schon zu sagen, wie viele Stimmen eine vordergründig erneuerte NSDAP auf sich gezogen hätte, wäre ihr die Teilnahme an den ersten Nachkriegswahlen erlaubt worden.

So ist das Grundgesetz aus nachvollziehbaren Gründen nicht gerade volksfreundlich. Durchwoben vom Misstrauen gegen den „falschen“ Gebrauch der Freiheit, hat es den Souverän in eine Art politische Sicherungsverwahrung genommen: festgelegt auf den Status eines allseits vertretenen Wahlbürgers, eingeschworen auf die Treue zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Vor allem im Konzept der „streitbaren Demokratie“ wirkt der Grundwiderspruch der westdeutschen Demokratiegründung nach: Dem Parlamentarischen Rat blieb nichts anderes übrig, als seine Hoffnungen auf eine Volksherrschaft zu setzen, die er diesem Volk im Grunde nicht zutraute: „Demokratie als Selbstmord“. Zum Glück erlangten die Instrumente der „streitbaren Demokratie“ nur in den Fünfzigerjahren praktische Bedeutung. Negativ schlägt allerdings zu Buche, dass das im Grundgesetz schlummernde „streitbare“ Ausgrenzungspotenzial die Unfähigkeit zum Streit hervorbrachte.

Folglich bleibt die Versuchung groß, bei Belastungsproben in alte Ausgrenzungsreflexe zurückzufallen. An den Problemfällen der letzten dreißig Jahre lässt sich das überaus verzagte, „streitbare“ Elend besichtigen: Darf die verbotene KPD wieder zugelassen werden, oder muss sich eine formal neue DKP gründen? Soll man die NPD verbieten? Wie radikal dürfen Beamte sein? Sind die Grünen eine ordentliche Partei, oder dürfen sie als antiparlamentarische Bewegung an Wahlen gar nicht teilnehmen? Sind die „Republikaner“ rechtsextremistisch? Muss die PDS vom Verfassungsschutz überwacht werden? Sind bei der Scientology Church verfassungsfeindliche Bestrebungen im Gange?

Nach fünfzig Jahren einer Verfassungsentwicklung, von der man im Parlamentarischen Rat nicht zu träumen wagte, hat sich die Angst vor der Freiheit als unbegründet erwiesen: Der präventive Demokratieschutz galt einer in Wirklichkeit noch gar nicht existierenden Demokratie und ist mit deren wirklicher Existenz überflüssig geworden.

Man könnte also dazu übergehen, Demokratie ohne besonderen Vorbehalt zu praktizieren. Weil aber dieser nahe liegende Schritt quer durch alle Parteien auf Abwehr und Unverständnis stößt, stellt sich die Frage: Warum ist das Denken hierzulande noch immer, allen positiven Erfahrungen zum Trotz, den ideologiebefrachteten Kategorien der „streitbaren Demokratie“ und des Verfassungsschutzes verhaftet? Wahrscheinlich deshalb, weil sie die vertrackte Möglichkeit bieten, die Demokratie im Namen der Demokratie, das heißt guten Gewissens, einzuschränken: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit.

Ein Rekurs auf die Begründung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zeigt, dass ausgerechnet das Denken, das sich gern als geläuterte Form des demokratischen Bewusstseins ausgibt, antipluralistische und antiliberale Wurzeln hat. „Wer mit dem Grundgesetz unter dem Kopfkissen schläft, braucht Carl Schmitt nicht“, war in der rechtsintellektuellen Zeitschrift Junge Freiheit zu lesen. „Wer jedoch erkannt hat, dass die Verfassung das Gefängnis ist, in dem die res publica der Deutschen – gerade nach der Wiedervereinigung – gefangengehalten wird, greift gerade jetzt zu seinen Werken.“

Angesichts der Tatsache, dass erklärte Verfassungsfeinde heutzutage rar sind, wirkt die unverhohlene Polemik gegen das Grundgesetz fast originell. Es ist allerdings ein grobes Missverständnis, der Freund-Feind-Theoretiker Carl Schmitt lasse sich umstandslos gegen das Grundgesetz ausspielen: Das Phantasma von der „Demokratie als Selbstmord“, Leitmotiv in den Vorberatungen zum Grundgesetz, geht auf den autoritär-konservativen Etatisten zurück.

In der Metapher vom „Selbstmord“ spitzte Schmitt 1932 seine Kritik am damals vorherrschenden Verfassungsverständnis zu. In seiner Schrift „Legalität und Legitimität“ heißt es: „Die Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems (...) bietet den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst, sie geht also in ihrer Neutralität bis zum Selbstmord.“

Die Weimarer Verfassung entsprach traditionellen demokratischen Prinzipien, kannte also weder eine freiheitliche demokratische Grundordnung noch die Bindung der Parlamentsmehrheit an die Werte einer Ewigkeitsklausel. Führende Kommentatoren gingen davon aus, dass alles, was im Wege des verfassungsändernden Gesetzes, also mit Zweidrittelmehrheit, beschlossen werde, legal sei – und zwar „alles ohne Unterschied des Inhalts und der politischen Tragweite“.

Nach diesem liberalen Verständnis von Freiheit ist die Verfassung ein Regelwerk von Verfahrensnormen und Grundrechten, sie ist die Rahmenordnung des politischen Konflikts, der, solange er nur friedlich ausgetragen wird, alle politischen Kräfte einschließt – auch mutmaßliche Verfassungsfeinde. Gegen dieses offene Verfassungsverständnis beschwor Carl Schmitt eine nebulöse „substanzhafte Ordnung“. Sie findet sich im heutigen Grundgesetz als „freiheitliche demokratische Grundordnung“ wieder und konstituiert den ideologischen Fluchtpunkt der vorherrschenden Staatsschutzdoktrin.

Die Pointe des doppelbödigen Verfassungsdenkens, demzufolge Legalität und Legitimität auseinanderfallen, besteht darin: Legalem Verhalten, das als politisch unerwünscht, als „verfassungswidrig“ definiert wird, kann die Legitimität, die Substanz, gleichsam als ein höherer Sinn der Verfassung entgegengehalten werden. So ist es möglich, friedliche, nicht strafbare Aktivitäten so genannter Extremisten unter Berufung auf die freiheitliche demokratische Grundordnung zu illegalisieren – auch wenn sie bloß tun, was jedermann unter dem Schutz der Grundrechte zu tun erlaubt ist.

Dass die Verfassung zu einer sakrosankten Werteordnung aufgerüstet wurde, ist folgenreich, weil bis heute natürlich nicht geklärt werden konnte, was den „richtigen“ Gebrauch der Grundrechte von ihrem „falschen“ unterscheiden soll. Wo aber die Legalität politischer Opposition nicht nach eindeutigen Kriterien verfassungsmäßig garantiert ist, sondern unter Berufung auf die Legitimität einer „Grundordnung“ jederzeit zurückgenommen werden kann, steht die Freiheit potenziell aller zur Disposition.

Am Ende mutiert die Verfassung, die nach bürgerlich-liberaler Tradition alle politischen Strömungen einschließt, zu einem staatlich verwalteten politischen Aktionsprogramm, in dessen Namen gesellschaftliche Abweichler je nach Bedarf ausgeschlossen werden. Weil damit der Staat, ähnlich wie einst in der DDR, als Hüter einer Wahrheit inthronisiert wird, ist die freiheitliche demokratische Grundordnung im Kern illiberal. „Die Deutschen (...) haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“, heißt es in der Präambel des Grundgesetzes von 1990. Das mag angehen, was die staatliche Einheit betrifft, nur mit der Freiheit hapert es: Die „Freiheitlichkeit“ der westdeutschen Staatsreligion verhält sich zur Freiheit ebenso wie die Schönheitlichkeit zur Schönheit.

Dabei eröffnet ein halbes Jahrhundert praktizierter Demokratie die Perspektive, sich aus dem Gravitationsfeld des „streitbaren“ Nachkriegsbewusstseins zu lösen, das heißt sich von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Bonner Grundgesetzes zu emanzipieren. Statt Ausnahmeartikel in Reserve zu halten, sollte man besser mit der demokratischen Regel Ernst machen: Freiheit für die Feinde der Freiheit. Das klingt wie der schrille Ruf, die Idee der Demokratie fahren zu lassen – und bezeichnet doch nur das kalkulierte Risiko, das selbstbewusste Demokraten gegenüber Extremisten eingehen. Nur keine Bange vor der Berliner Republik.

Horst Meier, 45, Jurist und Autor, lebt in Hamburg. Sein gekürzter Text ist dem aktuellen Heft (607) des Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 19 Mark) entnommen.