10 Uhr 51 in Bangkok

Berlin Scanner: Im Telefonladen X-TEL an der Oranienstraße war  ■   Andreas Becker

Die beiden Ladenlokale in der Oranienstraße liegen nur wenige Meter auseinander. Das X-TEL ist allerdings irgendwie hipper als das Tele-Café auf der Ecke Adalbertstraße, schrottiger, angenehmer. Früher wurden hier (glaub ich) Ledertaschen verkauft, nun ist ein Telefonladen daraus geworden.

Ins X-TEL kommen Leute, meist Ausländer, die man dann beim Telefonieren beobachten kann. Vor allem die Besucher von Kabine neun, direkt am Schaufenster, aus der man natürlich auch herausgucken kann: So kann man mit seiner Geliebten in Kirgisien sprechen und im gleichen Moment die Borstendinge im gegenüberliegenden Schaufenster des Blindenvereins betrachten.

„Nummer neun, Nummer fünf und Nummer eins sind am beliebtesten“, sagt D., der richtig nett ist. Der 23-jährige Türke lebt seit 22 Jahren in Berlin. Eigentlich ist er Tischler, aber seitdem er 1995 die Lehre abgeschlossen hat, hat er nicht mehr in seinem Beruf gearbeitet. So richtig Lust auf Tischlerei hatte er auch nicht, und dann hat ihn das Arbeitsamt in den Telefonladen geschickt. Irgendwie beteiligt sich das Arbeitsamt auch an seinem Lohn, der Rest kommt wohl von seinem Chef, meint D. (Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt, enthält aber einen unerwünschten Buchstaben.) So richtig viel verdient er nicht: „Aber Taxifahren bringt auch nichts, machen einige Kumpels von mir“.

So steht er seit ein paar Monaten sechs Tage die Woche hinter seiner Theke. Eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht, bis 24 Uhr. Kommt jemand durch die gerade offen stehende Tür (D. mag frische Luft), klickt er auf die roten und grünen Felder auf seinem Monitor, die hübsch symmetrisch die Kabinen abbilden. Wenn jemand fertig telefoniert hat, kommt er an D.'s Tresen, und D. klickt auf „X 5“: „Drei Mark 41.“

„Manche wundern sich, dass ein knappes Ortsgespräch so teuer ist“, sagt D., „die verweise ich dann auf die Ankündigung hinter mir“. Auf einem Blatt Papier steht, dass die „Grundgebühr“ 1,50 Mark beträgt. Wenn jemand allerdings unter einer Minute telefoniert, wird die Grundgebühr nicht fällig: „Das wissen viele nicht“. Und da D. ja vorher nicht ahnen kann, wo jemand anruft – außer bei Stammkunden – kann er auch schlecht immer auf die Grundgebühr hinweisen. „Deshalb gibt's manchmal Ärger“.

Auf seinem Monitor kann D. nicht nur den Preis des Gesprächs ablesen, er kann auch sehen, in welches Land telefoniert wurde. Manchmal steht auch nur „D 2-Mannesmann“ im Länderfeld. Die angerufenen Nummern sieht D. nicht – und auch die Gespräche abhören kann er anscheinend nicht. Ist das dann nicht langweilig hier, frage ich ihn. „Eigentlich nicht. Manche Stammkunden sagen auch, wen sie gerade angerufen haben.“

Aus der Nummer vier kommt ein Mann mit grauen Haaren und bunter Kopfbedeckung. Ich frage ihn, wo er gerade angerufen hat. „Bei meiner Mutter in Aserbaidschan“ sagt er, „da ist es schrecklich“. Und: „Der Präsident ist ein Verbrecher.“ Der Mann rundet seinen Betrag auf, gibt D. das Geld und geht lächelnd hinaus auf die Oranienstraße. D. bekommt oft Trinkgeld. Manche lassen sich aber auch haargenau jeden Pfennig rausgeben.

In Nummer fünf, der Eckkabine, beobachtet eine Frau mit Kopftuch und Kind auf dem Arm ihren Mann beim Telefonieren. Sie hockt gemütlich auf der Bank, er steht. Später spricht sie selbst noch ein paar Worte in den Hörer.

„Nach dem Erdbeben in der Türkei waren total viel Medien hier, wollten Interviews machen“ sagt D. Dass die meisten Kunden in den Libanon und die Türkei telefonierten, hat er damals den Presseleuten gesagt, „oder Elfenbeinküste“. Und: „Sonntags und Montags ist am meisten los“. Auch ein Fotograf sei unlängst dagewesen. Der wollte den Cola-Automaten fotografieren, weil dahinter eine Weltkarte hängt: „Cola- gibt's überall, wollte der als Bild haben.“ Wir lachen.

Ich drehe den braunen Plastikbecher mit dem ordentlich starken Kaffee in meiner Hand, rauche die nächste Philip Morris Light American und präge mir das Schild auf dem Kaffeeautomaten ein („bitte Becher selber drunter stellen“), der neben dem Cola-Automaten steht. Es gibt noch eine weitere Landkarte an der Wand in dem Telefonladen: Europa, und irgend etwas erinnert mich hier an Bret Easton Ellis (Morgens hatte ich noch „Glamorama“ gelesen).

Ansonsten ist der Laden schmucklos. Nur über den Kabinen hängen Uhren. Jeder Telefonladen hat diese Uhren, die den Leuten sagen sollen, wie spät es in der angerufenen Welt gerade ist. Bei X-TEL gehen fast alle diese Uhren falsch. Die Batterien sind leer. An der Uhr unter „Moskau“ funktionieren die Sekunden, die Uhr steht aber dennoch immer auf 9 Uhr 31. In Islamabad ist es immer fünf vor sieben und in Bangkok seit einigen Tagen 10 Uhr 51. Nur die Uhren für New York und Berlin gehen richtig. „Der Chef war mal in New York, deswegen hat er bei der einen Uhr die Batterie erneuert.“

Telefonladen X-TEL, Oranienstr. 178