Der Don-Carlos-Eklat

■ Dabeigewesene erinnern sich an das Phantom der Komischen Oper

Der unauffällig wirkende Mittdreißiger, stets elegant gewandet, traf immer erst nach Beginn der Vorstellung ein und eilte in die eigens für ihn reservierte Loge. Egal ob auf der Bühne Weltniveau oder musikalische Hausmannskost geboten wurde, „Carlos“ war immer dabei, wenn in der DDR die Arien stiegen. Immer quittierte der diskrete Fremde die Darbietung mit vornehmem Beifall, seine farblich sehr elegant auf den Smoking abgestimmte Ausgeh-Kalaschnikoff gab er jedoch generell nie an der Garderobe ab.

Auch bei der feierlichen Eröffnung der aufwendig wiederhergestellten Semper-Oper in Dresden hielt sich der südländische Ehrengast im Hintergrund. In seinem Kennerschaft verratenden Blick lag auch immer die lauernde Gespanntheit eines gejagten Tieres, wie sich Garderobiere Erna Plönse auf Befragen erinnert. Kaum war „Tosca“ verklungen, machte sich der geheimnisvolle Opernfreund schon auf den Heimweg, nicht die Beifallsbekundungen in Richtung der virtuosen Musiker versäumend. Und das, obwohl ihm die SED-Führung nicht nur eine der begehrten Freikarten, sondern auch das Abfeuern der Kugeln auf der Engelsburg überlassen hatte.

Der Name des Phantoms, das in den 80er-Jahren immer wieder die Opernhäuser der DDR besuchte: „Carlos“. Der Name war Programm – im Westen international gesuchter Terroristen-Chef, trug er neben seiner Maschinenpistole stets auch Freikarten für die nächste Premiere bei sich. Die wurden ihm eigens per Trabbi-Konvoi in sein Versteck auf Hiddensee gebracht, wo er auf Einladung der SED-Regierung logierte, damit er dort ungestört seine gefürchteten Terroranschläge im Sinne der Destabilisierung des kapitalistischen Westens planen konnte.

Wie der erste Paukist des Orchesters der Komischen Oper, Ernst Worb, erst neulich, anlässlich des Mauerfall-Jubiläums, enthüllte, „opferte die frühere DDR-Führung schamlos das klassische Erbe der fortschrittlichsten Kunstschaffenden der Vergangenheit auf dem Altar einer menschenverachtenden Machtpolitik“. Die Kunst, so Worb, wurde auf den Stand eines dienstfertigen Instruments ihrer kommunistischen Weltrevolutionspläne heruntergebracht. Sprechendstes Beispiel für diese Kultur-Barbarei sei eine denkwürdige Aufführung der Verdi-Oper „Don Carlos“ im Oktober 1989 gewesen.

Das Stück war eigens als Hommage an den damals in Ostberlin weilenden Opern-Enthusiasten „Carlos“ außer der Reihe auf den Spielplan der Komischen Oper gelangt. Doch nicht nur die dafür erforderlichen Proben-Planübererfüllung erboste laut Worb die Ensemblemitglieder, sondern auch die umfangreichen Änderungen, die der Regisseur Ernst Milow dem Kunstwerk angedeihen ließ. Mochte es noch hingenommen werden, dass – aus Rücksichtnahme auf den berüchtigten Terrorexperten „Carlos“ – jene Partie, in der König Philip per Autodafé den Aufruhr in den Niederlanden unterdrückte („Dies Blutgericht soll ohne Beispiel sein“), aus dem Stück gestrichen wurde, so wollten die sonst bei „Streichungen“ nicht sich lange bitten lassenden Musiker der Komischen Oper denn doch nicht kooperieren, als Milow den dramatischen Schluß des Stückes umschrieb: Don Carlos' Auslieferung an die Inquisition wollte der republikweit gefürchtete Regisseur handstreichartig getilgt wissen. Doch hier bewies das Ensemble Courage und beharrte auf der ursprünglichen Fassung Verdis.

Der Eklat war damit programmiert: Als der von Günter Fipsen interpretierte König Philipp mit den Worten: „Kardinal, ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihre!“ Don Carlos der Willkür des Großinquisitors ausliefert, verließ der überempfindliche Top-Terrorist nach übereinstimmenden Beobachtungen wutschnaubend seine Ehrenloge. Allerdings hinterließ er eine auf Ende des 3. Aktes getimete Bombe, die diese Stätte der Kunst in ein Inferno des Terrors verwandelt hätte, wäre sie nicht dank der Aufmerksamkeit des Pedells Hugo Pleske entdeckt und wenige Sekunden vor dem Vorhang entschärft worden.

Die SED-Führung wollte den tief in seiner Ehre gekränkten Musikfreund und Meisterterroristen besänftigen, doch alle Versuche schlugen fehl: weder die „Entführung aus dem Serail“ in einer einfühlsamen Aufführung durch die Arbeiteroper des VEB Elektromaschinenbau Sachsenwerk Dresden-Neustadt konnte den temperamentvollen Südländer aus seinem Hiddenseer Schmollwinkel wieder in die Oper locken noch eine schleunigst in Auftrag gegebene Bearbeitung der „Aida“, seiner Lieblingsoper, bei der im Gefangenenchor aussschließlich in der DDR untergetauchte RAF-Mitglieder sangen. „Carlos“ blieb für das Musikleben der DDR ein für allemal verloren. Rüdiger Kind