Destination in Balkannähe

Slowenien liegt an der Adria und in den Alpen. Das Land, südöstlich von Österreich, ist auf der touristischen Landkarte kaum bekannt. Dabei bietet es vielfältige, noch unentdeckte Möglichkeiten – nicht nur für Kanusportler   ■  Von D. Schultse und I. Gawin

Die Morgensonne taucht den See in ein warmes Licht. Ruhig liegt er da wie eine riesige, unregelmäßige Glasscheibe, so glatt, dass sich jede Felsspalte der Berge darin spiegelt. Ein Boot stößt vom Ufer ab. Kleine Wellen schwappen ans Gemäuer der Brücke.

Die Häuser des Ortes liegen versteckt, offen sichtbar ist nur die Kirche mit ihrem schlanken, hoch aufschießenden Turm. Die Südfassade ist mit einem opulenten Fresko ausgemalt, dessen Farben schon ein wenig verblichen sind. Der hünenhafte Christophorus watet durch die klaren Fluten, an sein bärtiges Haupt schmiegt sich ein Christuskind. Der Schritt des Riesen deutet an, wohin sein Weg ihn führt: Jenseits der Brücke entströmt dem See die Sava Bohinjka, ein sprudeliger Wildbach, der rasch an Geschwindigkeit gewinnt und sich einige Kilometer weiter mit der Sava Dolinka vereint. Quer durch Slowenien fließt der Strom, bevor er bei Belgrad in die Donau mündet.Der Ort, von dem die Rede ist, heißt Bohinj und liegt am Rande des Triglav-Nationalparks, 10 km westlich des Kurorts Bled.

Ich erinnere mich noch gut, wie meine Reise begann. Es war, als führe ich in ein fremdes, weit entferntes, unbekanntes Land. „Haben Sie Reiseführer über Slowenien?“, hatte ich die Verkäuferin der Buchhandlung gefragt. „Slowenien?“ – sie legt die Stirn angestrengt in Falten, dann versichert sie forsch: „Selbstverständlich!“ Sie führt mich an einer Flucht von Regalen vorbei, für fast jedes Land war ein Bord reserviert. „Slowenien gibt es nicht“, sagte sie irritiert, „aber ich könnte mal nachschauen bei der Slowakei.“ Und tatsächlich entdeckte sie dort einen Band, den sie mir erleichtert in die Hand drückte.

Im hohen Norden gehen, scheint es, die Uhren langsam. Erstaunlich viele Menschen gibt es, die Slowenien auf der Landkarte entweder gar nicht verorten können oder aber dem Vorurteil anhängen, das Land sei schon „Balkan“ und dort sollte man seinen Urlaub besser nicht verbringen. Da mag die Optik in südlicheren Regionen schon ein wenig unverkrampfter sein. Schließlich liegt Slowenien nur eine Tagesreise entfernt, weshalb man in den nahen Julischen Alpen manch einen Wagen mit bayrischem oder österreichischem Nummernschild erblickt. Doch man spricht nicht viel darüber, hütet das Wissen wie einen Geheimtip, als wäre man froh, dass die „Nordlichter“ von der Schönheit dieses Landes noch nichts wissen.

Tatsächlich ist das slowenische Gebirge eine der attraktivsten Destinationen Europas: nicht nur für Kanusportler, sondern auch für Wanderer und Radler. Die Saison beginnt im späten Frühling, wenn die Wiesen in voller Blüte stehen. Bis Mitte Oktober tummeln sich in Bohinj die Naturfreunde, viele markierte Wege machen mit der Dramatik der Julischen Alpen vertraut. Für die Umrundung des langgestreckten Sees benötigt man gerade einmal vier Stunden, über die Westseite erreicht man den Savica-Wasserfall, der sich spektakulär in die Tiefe ergießt. Oder man wandert über das Tal der Sieben Seen auf den 2.864 Meter hohen Triglav hinauf, der benannt ist nach dem dreigesichtigen slawischen Gott, Herrscher über Himmel, Erde und Unterwelt.

Bauern winken mich heran auf einen Schluck Birnenschnaps. Sie sprechen deutsch, wie so viele hier, leicht kommt das Gespräch in Gang. Die Euphorie der Gründerjahre scheint verflogen, doch ungebrochen ist die Lust an Politik. Ohne Umschweife machen die Männer ihrem Unmut über die gegenwärtige Lage Luft, auch die Schuldigen sind rasch benannt. „Österreich will alles“, raunt der eine. „Die werden es schon schaffen, dass wir erst in die EU kommen, wenn die deutschstämmige Minderheit Sonderrechte erhält.“ Ein anderer Bauer, der sich als France vorstellt, pflichtet ihm bei: „Mit Italien war es genau das Gleiche. Es ist schlimm, dass wir nicht schon längst Mitglied sind.“

1994 hatte die Regierung des Nachbarlandes ihre Einwilligung für den slowenischen Beitritt an die Bedingung geknüpft, das ehemals italienische Eigentum in Slowenien müsse den angestammten Eigentümern wiedergegeben werden. Diese Forderung ist heute vom Tisch, doch France ist immer noch wütend: „Wenn alle, die 1945 vertrieben wurden, ihr Eigentum wiederbekommen, gehört ihnen über Nacht das halbe Slowenien. Und die andere Hälfte geht an die katholische Kirche. Ist das gerecht?“ Der trockene Einwurf des Dritten: „Erstmals haben wir einen eigenen Staat, doch wir haben darin nur wenig Einfluss.

Am nächsten Tag verlasse ich Bohinj in der gemütlichen Bummelbahn und fahre durch das Tal der Soca. Monatelang hat man hier von der Sonne nichts gespürt – die enge Schlucht lässt im Winter keinen Strahl nach unten dringen. Im Ersten Weltkrieg war dieses Tal Bühne eines blutigen Stellungskrieges von Habsburgern und Italienern. In Kobarid, wo den Österreichern 1917 die entscheidende Offensive gelang, informiert ein Museum über den Kriegsverlauf. Im Treppenhaus hängt das Porträt von Ernest Hemingway, der als freiwilliger Helfer im italienischen Sanitätsdienst arbeitete. Seine Fronterlebnisse hat er im Roman A Farewell To Arms (In einem andern Land) literarisch verarbeitet.

Südlich von Kobarid fließt die Soca ruhiger, durchschneidet in weitem Bogen die Landschaft. Vor Nova Gorica windet sie sich durch eine enge Klamm und mündet ein in die Hochebene des Karst. Gleißend heller, verwitterter Fels: Nur mühsam konnte sich hier menschliches Leben entfalten. Die aus Bruchstein erbauten, meist auf Bergkuppen liegenden Dörfer wirken denn auch wie Festungen inmitten abweisender Natur. Unter der Erde verbergen sich über 6.000 Höhlen, geheimnisvolle Labyrinthe mit Flüssen und Seen.

Von Lipica, dem ehemaligen Paradegestüt der k. u. k. Monarchie, ist es nicht weit an die Küste, wo sich Slowenien in neuem Licht präsentiert: Italienische Architektur verbindet sich mit südländischer Lebensart. Die laue Brise trägt den Geruch von Tang heran, das Meer ist nah. Hoch oben im meerumspülten Ort Piran thront die festungsähnliche Georgskirche. Eine Statue stellt den Engel Michael dar, der sein Fähnlein diplomatisch nach dem Winde hängt. Meist blickt der Heilige gen Südwest und lässt den Blick versonnen übers Meer schweifen. Unten breitet sich ein Gewirr mittelalterlicher Gassen aus. Im Halbrund reihen sich pastellfarbene Bürgerhäuser aneinander, davor der Hafen, in dem Yachten und Fischerboote vor Anker liegen.

In der Stadtmitte ein Denkmal des Maestro selbst: Giuseppe Tartini, der Schöpfer der rasanten Teufelstrillersonate. Mit der Violine in der Linken und einem Bogen in der Rechten verneigt er sich vor einem imaginären Publikum. Keck fixiert er eine in den Boden eingelassene Platte, die das Datum „1997“ trägt.

Damals trafen sich in Piran acht Staatsoberhäupter Mitteleuropas und debattierten wie der gemeinsame politische Weg den Bürgern schmackhaft gemacht werden konnte und sollte. Der Ort Piran war mit Bedacht gewählt: Jahrhundertelang lag er an der Schnittstelle slawischer, germanischer und romanischer Kultur – räumliche Nähe beförderte hier schon immer die Suche nach stabilem dauerhaften Konsens.