Tony Blair wird sein Gespenst nicht los

Nach langem Streit schickt die Labour-Partei das linke Idol Ken Livingstone ins Rennen um die Londoner Bürgermeisterkandidatur. Nie seit dem Machtantritt war die Partei so konfus  ■   Aus London Dominic Johnson

Der Mann mit dem kleinen Regenschirm auf dem Kopf ist sich sicher. „Wenn die mich loswerden wollen, müssen die mich schon in den Fluss schmeißen“, lacht Terry Hutt. Der 65-Jährige steht immer vor dem Labour-Hauptquartier am Londoner Themseufer, wenn drinnen über Ken Livingstone verhandelt wird. Den Regenschirm mit der Parole „Wählt London, wählt Ken Livingstone“ hat er an seinem Kopf mit Klebeband befestigt, gekrönt von einem Aufkleber mit der Aufschrift: „Noch nicht tot.“

An der nächsten Tür steht ein Ire. „Ich bin für die IRA, auch wenn das verboten ist“, verkündet er und schwärmt von den 80er-Jahren, als Ken Livingstone den Groß-Londoner Stadtrat GLC führte. „Er kümmerte sich um Leute wie uns“, bestätigt Terry Hutt, der bei keiner Rentnerdemo fehlt. „Die alte Generation hatte noch Stil.“

Man ahnt, wovor New Labour Angst hat, wenn die schelmische, eigensinnige, längst totgeglaubte und doch unbeherschbare Figur Ken Livingstone erneut in die Politik eintritt. Alle kämen sie wieder aus ihren Löchern gekrochen: Die Linken und die radikalen Gewerkschaftler, die Multikultis und die Frauenrechtlerinnen, die Alternativen und Libertären – die komplette verblichene Regenbogenkoalition, für deren Verbannung aus Labours Politik die Reformer um Blair angetreten waren. „Solange mein Körper Odem hat“, flehte Tony Blair am Morgen des historischen Tages, „werde ich nie erlauben, dass bei Labour die alten Tage des Extremismus wiederkehren.“

Vergeblich. Als Livingstone am Donnerstag aus seinem Vorstellungsgespräch vor den New-Labour-Apparatschiks kam und in sich hineingrinste, war alles klar. „Die Labour-Partei ist eine vernünftige und erwachsene Organisation“, sagte er: „Dies ist eine Regierung, die auf die Leute hört, und sie wird auf die Londoner hören“.

Wenig später war es amtlich: Livingstone darf als einer von dreien für die Labour-Nominierung als Kandidat bei der Londoner Bürgermeisterwahl am 4. Mai 2000 antreten. Selbstverständlich war das nicht. Seit 1998 per Volksabstimmung der Posten eines direkt gewählten Großlondoner Bürgermeisters geschaffen wurde, gab es folgende Konstanten in der Londoner Politik: Livingstone wird die Wahl gewinnen, wenn man ihn lässt, und die Regierung Blair will das nicht. Seit Margaret Thatcher 1986 wegen Livingstone die Großlondoner Stadtverwaltung GLC abschaffte, hat die Neueinführung einer GLC-ähnlichen Struktur immenses symbolisches Gewicht im Labour-Kosmos. Wer diese Struktur kontrolliert, beherrscht den Wärmestrom der Partei, und Livingstones Rückkehr gilt für viele als historische Gerechtigkeit. Das Problem der kalten Bürokraten New Labours war also: Wie verhindert man Livingstone? Indem man ihn antreten lässt oder nicht? Lässt man ihn, wird er möglicherweise Labour-Kandidat – aber vielleicht kippt ihn der Parteiapparat ja schon in der Urwahl. Lässt man ihn nicht, wird er nicht Labour-Kandidat – aber vielleicht tritt er dann als Unabhängiger an und gewinnt so.

Die Tage der Entscheidung darüber waren die verrücktesten Tage einer britischen Regierung seit Blairs Amtsantritt. Livingstone tingelte als Märtyrer durch die Medien, während die Parteiführer sich aufführten wie stalinistische Betonköpfe. Reporter standen ratlos vor 10 Downing Street, während drinnen Blairs Interviewtermine abgesagt wurden. Die Wahlkampfbüros der Kandidaten gingen nicht mehr ans Telefon.

Labours Vorsprung vor den Konservativen in den Umfragen, seit drei Jahren konstant bei über 25 von Hundert schnurrte auf 10 von Hundert herunter. Nun ist die Entscheidung gefallen – und noch hat der Apparat Livingstone nicht auf Loyalität festnageln können. „Wenn ich aufgestellt werde, kann ich frei für die Politik eintreten, an die ich glaube“, sagte Livingstone. Die Führung will aber, dass der Kandidat für die Politik eintritt, an die Tony Blair glaubt. Sie muss Livingstone nun in der Urwahl schlagen, will sie das linke Gespenst verbannen.

Bei der Urwahl, angesagt für Februar, sind die Stimmen der etwa 68.000 Labour-Mitglieder in London gleichwertig denen der Labour-treuen Gewerkschaften und denen der Londoner Labour-Abgeordneten gleichwertig. Gegen Livingstone tritt als Favorit der Führung der ehemalige Gesundheitsminister Frank Dobson an, ein jovialer Parteisoldat, daneben Ex-Verkehrsstaatssekretärin Glenda Jackson, eine spröde Figur, die klare Worte liebt. Die Abgeordneten sind ohnehin linientreu; der Rest der Partei wird nun eine dreimonatige Schlammschlacht erleiden, gegen die der spätere richtige Wahlkampf blass aussehen wird.

Dobsons und Livingstones Wahlkampfteams kennen und hassen sich seit den 80er-Jahren. Anders als damals stehen diesmal die Ideologen rechts und die Pragmatiker links. Livingstone sieht die Kandidatenentscheidung als Referendum über die Sanierung der Londoner U-Bahn, die er in Staatshänden behalten will, während die Regierung eine Teilübernahme durch den privaten Bahngleisbetreiber „Railtrack“ favorisiert. Blair dagegen spricht von der „Schlacht“ gegen den „Extremismus der Vergangenheit“. Und natürlich konnte niemand dafür, dass die Nachricht von Cherie Blairs neuer Schwangerschaft am Donnerstag abend publik wurde und Kens Triumph von den Titelseiten der Boulevardpresse verdrängte. Es war eine Woche, in der Labour erstmals tief in den Abgrund blickte. Langsam merkt die britische Öffentlichkeit, wie dünn der Kitt ist, der bei Labour alt und neu beieinanderhält. Unbeschwert war am Schluss nur noch die dritte Kandidatin Glenda Jackson. „Ich denke, wir werden diese Phase sehr genießen“, behauptete sie. Wer's glaubt, wird Bürgermeister.