Deformierte Welt

Erste Ausstellung mit 90: Die Zeichnungen des Arztes und KZ-Überlebenden Ladislaus Szücs im Hamburger Institut für Sozialforschung  ■ Von Hajo Schiff

Der Stift in der Hand beim Erstellen des eigenen Profils: Mit dieser kleinen Umrisszeichnung auf der Rückseite eines Rezeptblockes ist schon das halbe Leben des Ladislaus Szücs skizziert: Arzt und Künstler. Die andere Hälfte ist weniger schön. Denn anders als in der leicht auf den Zettel geworfenen autonomen Selbstreferenz solcher Zeichnungen war es in diesem Jahrhundert nicht leicht, seine Biographie selbst zu bestimmen. Besonders dann, wenn man 1909 in Siebenbürgen geboren wurde.

Totenschädel, immer wieder Totenschädel und Skelettformen sind auf vielen anderen der bezeichneten kleinen Papierreste zu finden. Das aber ist mehr als ein makaber-spaßiger Totentanz. Diese Tödlein sind keine mittelalterlichen allgemeinmenschliche Allegorien, sondern der Versuch, die Bilder des tausendfältigen Todes zu bannen, mit denen Ladislaus Szücs im KZ konfrontiert war.

„Wissen Sie, wann der letzte Zug nach Arad geht?“ fragt der gutsituierte Herr den Schaffner. „Oh, das erleben Sie nicht mehr!“ antwortet der in einer Karikatur des 16-jährigen Szücs von 1925. 19 Jahre später erfährt solcher Wortwitz eine ganze andere Bedeutung: Die Juden aus dem ungarischen Teil Siebenbürgens werden in Züge nach Auschwitz verfrachtet.

Die Präsentation seiner Tuschzeichnungen im Hamburger Institut für Sozialforschung ist die Ausstellungspremiere des nun im Alter von 90 Jahren in Köln lebenden Ladislaus Szücs. In einer überlebensbefähigenden Haltung steter Ironie hatte der Hals-Nasen-Ohren-Arzt seine in den 50er und 60er Jahren im heimatlichen Rumänien wie nebenbei erstellte Kunst nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen. Doch Jan Philipp Reemtsma überzeugte ihn, die der damaligen Papierknappheit abgerungenen Skizzen zu zeigen.

Mit kratzigem Tuschpinsel entworfen, öffnet sich ein Blick auf eine deformierte Welt, in der auch die Symbole für Klugheit und kräftiges Leben stark bedrängt sind: Die Eule der Weisheit ist nurmehr zerzaust, und die vertrockneten Bäume krallen ihre Wurzeln wie Hände in den Boden einer Schädelstätte – nur ein einziger frischer Trieb wagt sich hervor. Auf dem „Indifference“ betitelten Blatt blicken neun aufgeso-ckelte Köpfe in verschiedene Richtungen und keiner auf den zwischen ihnen liegenden Ermordeten: So viele der Nachbarn wussten vom Terror, der die Deportierten erwartete, und sie schauten dennoch weg. Und immer wieder sind Gehängte und Fratzen zu erkennen: „Ich habe soviel Bösartigkeit erlebt, da kann ich kein gutes Gesicht zeichnen“, sagt Ladislaus Szücs.

Nach vielen Versuchen, der Diskriminierung auch im kommunistischen Rumänien und der Mangelwirtschaft zu entgehen, gelingt ihm 1974 die Ausreise nach Deutschland, und er baut sich eine neue Existenz als Badearzt auf. Szücs schafft es, sich mit seinem Erleben zu versöhnen, und hört mit dem Zeichnen auf. Die Fragen seiner Kinder und Enkel nach Deportation, Auschwitz und Zwangsarbeitslager, nach Todesmärschen, Notoperationen vor Leichenbergen und der Befreiung durch die US-Army beantwortet er in einem anderen Medium: Er entschließt sich, seine Erinnerungen niederzuschreiben und unter dem Titel „Zählappell“ zu veröffentlichen.

Nicht nur die Vergegenwärtigung der Geschichte anhand der persönlichen Geschichten ist immer wieder notwendig; aus der Erinnerung des Grauens geborene Kunst kann ein weiterer, unmittelbarerer Schlüssel dazu sein. Zur Spiegelung des dunklen Erlebens in der Kunst hat Jan Philipp Reemtsma treffende Worte gefunden: „Es ist das große Rätsel, das der Mensch dem Teufel aufgibt: Dass aus Leid Schönheit entstehen kann und dass Leid doch keinen Verdienst daran hat.“

„Salz der Tränen – Zeichnungen von Ladislaus Szücs, Arzt im Konzentrationslager“, in Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gezeigt im Hamburger Institut für Sozialforschung, Mittelweg 36, Mo - Fr 10 - 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, bis 17. Dezember, Katalog 20 Mark, Führungen Do 18 Uhr, Anmeldung für Gruppenführungen unter 42 824-325; Ladislaus Szücs: „Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager“, Frankfurt a. M. 1995, Fischer Taschenbuch Verlag, 208 Seiten, 18,90 Mark