Metabolismus ist schön

■ Gedichte im Netz: Die Literaturwerkstatt in Pankow feierte ein Wochenende lang die virtuelle Zukunft der Lyrik

Wenn man in Kreuzberg wohnt, ist die Literaturwerkstatt ziemlich weit draußen. Doch der Nachteil, dass sie so weit weg ist, ist gleichzeitig auch ein Vorteil. Man fühlt sich fast auf Reisen, wenn man dort hinfährt. Auf diesen Reisen trifft man dann andere in der Straßenbahn 52. Zwei junge Mädchen mit romantischen Haaren undStadtplänen auf den Knien wollen auch zum Majakowskiring. Sie wissen nicht so recht, was sie erwartet. Die eine sagt, da werde nun schön gefeiert, die andere hofft auf eine normale Lesung.

Livedichtung ist in – für den Open-Mike-Wettbewerb in der Literaturwerkstatt bewarben sich bekanntlich 730 Schreibkünstler, und die alljährlichen Lyriknächte sind hier stets überfüllt. Am Freitagabend aber war alles von Beginn an recht familiär, als in der Literaturwerkstatt das so genannte Onlinegehen der lyrikorientierten Internetplattform „lyrikline.org“ gefeiert wurde und neun DichterInnen, die es nun auch im Netz gibt, aus ihren Werken vorlasen.

Eigentlich ist die Literaturwerkstatt auch nur eine Viertelstunde weiter weg als etwa das noble Literaturhaus in der Fasanenstraße. Denn dort hatte der Abend schon zu Mittag begonnen: Um zwölf Uhr saßen bei einer Pressekonferenz in der Humboldt-Universität unter anderen: Peter Radunski, unser Kultussenator, Dr. Joachim Sartorius, Generalsekretär des ZK der Goethe-Institute, Dr. Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, Heiko Strunk, der Projektleiter der Lyrikline, und die Dichterin Elke Erb, die sich in der DDR um die jungen Prenzlauerberger so verdient gemacht hatte und für die Auswahl der auf „lyrikline.org“ vertretenen Poeten verantwortlich war.

Um zwölf Uhr also wurde die Lyrikline „freigeschaltet“. Auf der sympathischen Domain tummeln sich nicht nur Texte und Bilder von der Gegenwartslyrik über Lyrik für Kinder bis zu den Texten moderner und toter Dichter. Man kann auch alles hören per Mausklick. Auf diese Weise werde, so Thomas Wohlfahrt, der lyrische „Rhythmuskörper“ auf seine oralen Ursprünge (Lieder und Gesänge!) zurückgeführt und würden Schrift und Ton wieder vereinigt. Und außerdem sei es auch optimal bei Übersetzungen; wenn man also neben den Übersetzungen, die auch im Netz stehen, auch die Stimme des Autors hat, von der man meint, dass sie als Kleidung der eigenen Lyrik am besten stehen würde. Dass dies seit mindestens 50 Jahren recht umstritten ist – Gottfried Benn zum Beispiel hatte sich für das Vorrecht der Schriftlichkeit in der Lyrik stark gemacht –: geschenkt.

Andererseits entwickeln die Gedichte H. C. Artmanns zum Beispiel tatsächlich erst in gesprochener Form etwas ganz unverwechselbar Tolles. Es gibt auf „lyrikline“ eine Suchfunktion. Mit der kann man gucken, in welchen der 100 aufgenommenen Gedichte etwa das Wort „November“ vorkommt. Oder man bekommt bio- und bibliografische Details und Hinweise auf Sekundärliteratur. Oder man schickt den Dichtern Fanpost. Das Projekt wurde mit 400.000 Mark aus den Mitteln von Senat und Bund finanziert. Bis 2001 will man jeweils 1.000 deutsche und fremdsprachige AutorInnen ins Netz gespeist haben. Prima alles mit „multimedialem Erlebnischarakter“.

Wolfgang Thierse, der Präsident des Deutschen Bundestages und Schirmherr des eventobskurantischen „Literaturexpress Europa 2000“ begrüßte das Projekt sehr und wünschte ihm „gutes Gelingen“. Am Nachmittag chatteten die DichterInnen zusammen mit interessierten AkademikerInnen, die in zehn Goethe-Instituten überall auf der Welt herumsaßen. Die Fragen, die Elke Erb etwa zu beantworten hatte, waren meist sehr akademisch. Wie sie's denn mit der Postmoderne halten würde usw. Was soll man da sagen? In den ehedem sozialistischen Ländern sei Bildung eben immer auch Widerstand gewesen, sagte die Dichterin später.

Am Abend dann lasen zehn DichterInnen. „Oh Tod / Du dunkler Meister / zerbeiss uns nicht wie Glas das Hirn“ sprach Rosa Pock, die ihren Mann H. C. Artmann vertrat. Adolf Endler, der „Tarzan am Prenzlauer Berg“, las aus dem „Pudding der Apokalypse“. Die Dichterin Ursula Krechel „legte los mit Hallo / und schloss ab mit dem Grab“. Am besten gefiel mir Eugen Gomringer, der zwischen die strophenrahmenden Sätze „Redundanz ist schön“ und „das Gegenteil ist schön“ allerlei andere schöne Dinge wie „Metabolismus ist schön“ oder „fraktal ist schön“ gesetzt hatte. In den Pausen spielten vier Jazzmusiker im Treppenhaus, weil's unten zu eng war, und am Rande fragte einer: „Hast du meine Purpfeife gesehen?“ Detlef Kuhlbrodt
‚/B‘http://www.lyrikline.org