Handgepäck fürs nächste Jahrtausend
: Hadleyville, 12 Uhr mittags

■ In „High Noon“ kämpft Will Kane ein letztes Mal für die Kleinstadt. Wir sollten ihm zur Seite stehen. Denn die Kleinstadt muss mit

Now Main Street's white

washed windows

and vacant stores

seems like there ain't nobody

wants to come down here

no more

(Bruce Springsteen,

„My Hometown“, 1984)

Eine kleine Stadt im Westen der USA. Man sieht ein Brautpaar: eine schöne blonde Frau und einen schon etwas in die Jahre gekommenen Mann. Schnitt. Ein Blick auf die Uhr. „Wird der Mittagszug pünktlich sein?“, fragt jemand am Bahnhof der Stadt. Es ist 10.35 Uhr in Hadleyville. Der Countdown läuft.

Schnitt. Ein Blick auf die Statistik. Zur Zeit leben gut sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Viele von ihnen in Städten wie Mexico City (17 Millionen Einwohner) oder in Ballungsräumen wie Los Angeles (14 Millionen Einwohner). Das ist die Zukunft. Man sollte es sich also besser nett machen in der Megalopolis. In Bangkok (6 Millionen Einwohner) wird sich die dort ansässige „Association of Siamese Architecture“ darum demnächst auf einer Tagung mit der nicht gemütlichen Stadt Berlin (3,4 Millionen Einwohner) beschäftigen, insbesondere mit dem Potsdamer Platz. Für asiatische Architekten ist es vermutlich sehr interessant, dass eine europäische Hauptstadt in ihrer Mitte eine futuristisch getarnte Kleinstadt installiert. Ein Artenschutzprogramm sozusagen, denn die Kleinstadt, wie wir sie kennen, ist global gesehen ein Auslaufmodell.

Es gibt Wanderungsbewegungen: In Berlin zum Beispiel wohnen bekanntlich hauptsächlich Menschen aus Göppingen (52.200 Einwohner), Westerstede (18.300 Einwohner) oder Schwalmstadt (17.300 Einwohner). Im europäisch-nordamerikanischen Kulturraum schlägt sich das Ressentiment gegenüber der Kleinstadt allerdings vor allem in der Kunstproduktion nieder. So gut wie alle großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts arbeiten sich an diesem Thema ab. Man kann es nachschlagen bei William Faulkner, Hermann Hesse, Thornton Wilder, David Lynch, Martin Walser, Bruce Springsteen . . .

Schnitt. Ein Blick auf die Uhr. Nur fünf Minuten sind vergangen. Es ist 10.40 Uhr in Hadleyville. Erzählen ist Flucht, und jede Flucht beginnt in einer kleinen Stadt. Auch wenn man es zuerst vielleicht nicht wahrhaben will. „Ich bin noch nie vor irgendetwas weggelaufen“, sagte Kane, der ehemalige Marshall der Stadt, zu seiner Frau Amy: „Das hier ist meine Stadt. Ich habe hier Freunde.“ Kane und Amy werden von Gary Cooper und Grace Kelly gespielt in Fred Zinnemanns Western „High Noon“. Aus der Perspektive der Kleinstadt ist das der wichtigste Film dieses Jahrhunderts.

„High Noon“ ist auf einen einzigen Punkt hin inszeniert. Um 12 Uhr wird der Mittagszug in den Bahnhof von Hadleyville einfahren und Will Kane die kleine Stadt verlassen. Kane weiß, dass er ein neues Leben nur an einem anderen Ort beginnen kann, aber er weiß auch, dass ohne den zurückgelassenen Gegenentwurf das neue Leben nicht funktionieren wird: In der Erinnerung muss die Kleinstadt weiterleben, als Fluchtpunkt. Darum kämpft der Ex-Marshall in „High Noon“ ein letztes Mal. Für Hadleyville.

Schnitt. Ein Blick auf den Mond. Der japanische Baukonzern Nishimatsu richtet sich darauf ein, im Jahr 2050 Urlaubs-Kleinstädte (11.000 Einwohner) auf dem Mond zu errichten. Das 21. Jahrhundert hat die real existierende Kleinstadt längst aufgegeben und sucht nach künstlichen Ersatzlösungen: im Weltraum, im Dienstleistungsdorf Potsdamer Platz (10.000 Angestellte) – oder auch in der idealen Kleinstadt, die in den USA Mitte der 90er von den kommunitaristischen Visionären des Disney-Konzerns errichtet wurde (400 Einwohner).

Man wird sich das alles sehr interessiert ansehen, auf Fachtagungen in Mexico City, Los Angeles oder Bangkok. Niemand jedoch wird für die künstlichen Kleinstädte kämpfen wie Will Kane für Hadleyville. Darum scheiterte auch der bisher ambitionierteste Versuch in dieser Hinsicht: in der Wüste von Arizona eine vollkommen autarke Kleinstadt im Treibhausformat nachzubauen. Bereits nach zwei Jahren endete das Projekt „Biosphere 2“ (8 Einwohner) im Streit.

Schnitt. Der Zug fährt ein. Es ist 12 Uhr. Kane steht allein auf der staubigen Straße. Hadleyville hat nur noch einen einzigen Einwohner. Es wird einen Schusswechsel geben, dann wird Will Kane zum Bahnhof gehen. Er ist bei null angekommen. Sein Leben lang wird er von dieser Flucht erzählen, sein Leben lang wird er davon träumen, zurückzukehren.

Will Kane ist der letzte große Erzähler, Hadleyville die letzte echte Kleinstadt. Es wird sie noch geben, wenn Göppingen, Westerstede und Schwalmstadt längst im Sprawl der benachbarten Ballungszentren verschwunden sind. Keine Angst, Will Kane. Wir nehmen Hadleyville mit ins nächste Jahrtausend. Wir sind deine Freunde. Kolja Mensing