Die Erde ist rund

Diego Maradona war Profiteur, aber auch Opfer der Globalisierung des Fußballs. Erinnerung an ein begnadetes Wrack  ■   Von Ulrich Brieler

Am Anfang ist ein Bild, Juni 1984: Am Tor des spanischen Konsulats in Neapel haben sich zwei Neapolitaner angefesselt. In den Händen halten sie, wie religiöse Ekstatiker ihre Ikone, das Foto eines wuschelköpfigen Fußballspielers. Die Vereinsführung des SSC Neapel liegt in aussichtsreichen Verhandlungen mit dem FC Barcelona. Ihr Gegenstand: der Transfer des weltbesten Fußballers, Diego Armando Maradonas. Die Geschäfte und Gebete haben Erfolg. Mit Mardona beginnt für Neapel ein neues Kapitel der Stadtgeschichte. Mit seinem Abschied endet es. Wahrscheinlich waren nie so viele Menschen in Neapel glücklich wie zur Zeit der Regentschaft von Maradona I. Am 5. Juli 1984 fliegt der neue Heros ins Stadion von Napoli ein, heiß erwartet von 70.000 Tifosi im ausverkauften Stadion. Heute spielt der SSC Neapel in der 2. Liga vor 900 Besuchern.

Maradona: Heute wird er bestenfalls als vermögender Sozialfall abgebucht. Ein proletarischer Großkotz in der Welt der Gazetten und Schlagzeilen. Begleitet von Bodyguards, übergewichtig und maulhurerisch, gibt er seine Stippvisiten. Ein gefallener Engel im Che-Guevara-Shirt zehrt vom vergangenen Zauber. Vor 20 Jahren begann sein Aufstieg zum Medienstar. Und zweifelsfrei konzentriert sich die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Fußballs der letzten Jahrzehnte wohl in keiner Karriere so exemplarisch wie im Leben seines begabtesten Akteurs. Aber auch die Verfallsgeschichte des Fußballs gehört hierhin: als Eigentum der kleinen Leute, als vielleicht letzter Ort einer Welt, in der ihre Stimme gehört würde.

Soccer Entertainment Incorporated

Einen wie Maradona wird es nicht mehr geben. Er war nur im Augenblick des Bruchs denkbar. Es ist der Beginn der Globalisierung des Fußballs. Aus einem verachteten Sport der Volkskultur wird eine profitable Branche der Kulturindustrie. Die Enteignung der Fans durch die Fußballbürokraten und die neuen Medienkapitalisten nimmt ihren Lauf. Maradona ist das erste Resultat, der erste Profiteur und das erste Opfer dieser Expropriation. Als erster Kicker lässt Maradona seine Karriere global vermarkten. Die „Maradona Entertainments“ spielen ein Vielfaches seiner Fußballergage ein. Seine Verträge – mit dem FC Barcelona verhandelt sein Management über zwei Jahre – gleichen eher Fusionsvereinbarungen multinationaler Konzerne denn Kontrakten von Berufskünstlern. Er ist der Pionier. Mit ihm, nicht mit dem Bosman-Urteil, entsteht der fußballerische Unternehmer seiner Arbeitskraft, jenes so junge Objekt der Begierde von Anwälten, Managern und PR-Beratern. Maradona nimmt mit seiner Wirkung die neoliberale Utopie der grenzenlosen Arbeitsmärkte vorweg.

In den späten 70er-Jahren entwickelt sich so der Verwaltungsstab der neuen Fußballindustrie: die Agenten, Späher, Vermittler, Berater, stets auf dem Sprung, den neuesten Maradona zu entdecken. Kein Erdenfleck entgeht ihrem panoptischen Blick.

Der Fußball besaß seit der ersten Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay eine internationale Dimension. Schon seit den 20er-Jahren hatte es aufgrund landsmannschaftlicher Bindungen in südeuropäischen Mannschaften südamerikansche Spieler gegeben. Ohne die assimilierten Argentinier in seinen Reihen wäre Italien 1934 und 1938 nicht Weltmeister geworden. Ohne die Öffnung des Weltmarktes für argentinische Spieler nach dem Zweiten Weltkrieg wären die Triumphe von Real Madrid, dem FC Barcelona und der Mailänder Klubs undenkbar. Santamaria, Altafini, Sivori, di Stefano: Die Namen sind ebenso wohltönend wie Legion. Doch mit Maradona wird aus dem Rinnsal ein Strom. Zwischen Südamerika und Europa entsteht ein postkoloniales Geschäft ganz neuer Art, von dem alle profitieren, die daran teilhaben.

Der Gilles de Rais des Fußballs

Auch Pelé war ein Weltstar. Aber wann sah man ihn denn? Alle vier Jahre bei Weltmeisterschaften und auf den seltenen Tourneen des F. C. Santos oder der brasilianischen Nationalmannschaft. Pelés Ruf war ein Gerücht, weit weg in Brasilien, seine Auftritte waren Epiphanien. Und was nach Maradona kam, waren Marketingprodukte: all die Ronaldos, Romarios und Zidanes. Entweder sie waren vor der Zeit verbraucht, oder sie haushalteten mit ihren Künsten derart, dass sie berechenbar wurden: Betriebswirtschaftler des Fußballs.

Exakt dies wollte Maradona nie sein. Daher war er stets mehr als nur ein großer Fußballer. Hätte Georges Bataille ihn gekannt, er wäre ein modernes Exemplar seiner Theorie der Souveränität geworden. Maradona hat sein immenses Vermögen mit offenen Händen ausgegeben. Er war reine Ausschweifung und zweckfreier Exzess. Er war der Gilles de Rais des Fußballs. Maradona, der große Verausgaber, wusste mit seinen Möglichkeiten nicht hauszuhalten, nicht auf dem Spielfeld und nicht in seinem so genannten Privatleben, das es so nicht gab, weil Maradona eine öffentliche Figur war und sein musste. Was ihm im Überfluss gegeben war, wollte er denen zurückgeben, denen er es verdankte.

Kein Zweifel: Maradona liebte den Fußball. Er war kein Job für ihn, sondern eine Berufung. Er wollte diese Begeisterung am Spiel öffentlich zelebrieren, und im Zeitalter des verwalteten Fußballs war dies sein Verhängnis. Was die neuen Herren des Leders nie begreifen werden – und was bald gänzlich Vergangenheit sein wird, verschwunden wie der Minnesang, das Ethos des Handwerkers oder die Solidarität des Proletariats –, ist der spontane Enthusiasmus, der das Spiel kreiert. „Der Mensch ist nur da frei, wo er spielt“, wusste Schiller. Maradonas Verführung begann bereits vor dem Anpfiff, wenn er seine Übungen mit dem Ball vorführte und seinen Kontakt zum Publikum herstellte. Denn Maradona war nichts ohne dieses Publikum, ohne jene, die Fußball atmen und leben, weil es nichts anderes gibt in dieser Welt, an das sie glauben können. Maradona hat spontan um diese spirituelle Beziehung gewusst. Sie war Quelle seiner Kraft und spielerischen Leidenschaft. Nie hat er seine Herkunft verleugnet. Als soziale Figur repräsentiert er die Begegnung des plebejischen Milieus samt seiner moralischen Ökonomie der Loyalität und Unterstützung mit der unpersönlichen Kälte des neuen Kommerzfußballs.

Im Unvereinbaren dieser beiden Welten wurzelt Maradonas Unglück. Bereits der Transfer nach Barcelona 1982, für viele Argentinier eine größere nationale Katastrophe als der im selben Jahr verlorene Falkland-Krieg, wird zum Fiasko. Verletzungen, taktische Zwänge und brutale Gewalt der Gegenspieler sind das eine, seine Einsamkeit das andere. Auch der Hofstaat, diese Ansammlung aus vermeintlichen Freunden und Beratern, kann ihm die heimatliche Atmosphäre nicht ersetzen. Erst die Flucht nach Neapel schafft Linderung und Maradona die Plattform für seine größsten Erfolge. Aber mit dem Einsatz der „Hand Gottes“ im Spiel gegen England während der WM 1986 markiert er zugleich das Ende einer Fußballära. Die Kultur des Fair Play verabschiedet sich zugunsten der Mentalität des Siegens um jeden Preis. Ein Pelé hätte sich nie dazu hergegeben.

Rationalisierung und Entzauberung

Nach den Triumphen mit Argentinien 1986 und mit Neapel in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre ist Maradona verbraucht. Er trägt nur noch seinen guten Namen zu Markte, einen symbolischen Tauschwert, der um so wertvoller wird, je mehr das Spiel seine Magie verliert: Maradona wird das prominenteste Opfer dieser Dialektik aus Rationalisierung und Entzauberung des Fußballs. Als er 1994 in Amerika seinen letzten internationalen Comeback-Versuch startet, ist er prompt wieder der Held des Tages. Aber nur bis zu dem Augenblick, an dem die Ausschweifung schließlich ihren Tribut fordert.

Doping war für Maradona nie ein Problem. Es war nur Stimulans für einen Organismus, der dem Genie des Fußballgeistes als Instrument diente. Regelmäßige Spritzkuren unter der Aufsicht bekannter Sportmediziner gehören längst zum Alltag der modernen Fußballgladiatoren. In der Ära der Biopolitik ist der Körper des Athleten Experimentierfeld der humanen Belastbarkeit. Aufbaustoffe halfen schon dem jungen Maradona zu einer Körpergestalt, die in auffallendem Widerspruch zu seiner Größe stand. Und Kokain? Es war ein Nahrungsmittel wie jedes andere.

Ob das Sniffen bei Maradona irreparable Hirnschäden verursacht hat, wie Jimmy Burns, Journalist der Financial Times und Autor einer brillanten Biographie über unseren Helden („Die Hand Gottes. Das Leben des Diego Armando Maradona“, Sport-Verlag Berlin 1998), vermutet, wen interessierte dies, solange Maradona Quote brachte und brillierte?

Aber 1994 war Maradona reif. Die globalen Fußballkaptitalisten waren seine Eskapaden leid. Sie wollten ihre Schäfchen ins Seriöse bringen. Wie man auf den Rängen den leitenden Angestellten von Bayer Leverkusen als neue Zielgruppe entdeckte, so musste man sich auf dem Platz der Hasardeure entledigen. Dies ist der reale Hintergrund von Maradonas Klagen einer gegen ihn gerichteten Verschwörung. Sie bestand zweifellos, aber anders, als er dachte. Maradona war unzeitgemäß geworden. Er passte nicht mehr in eine Fußballwelt der Zweckrationalität, in der das Ungezügelte des Spiels der Spannung einer Aufsichtsratssitzung weichen würde.

Dabei ließ sich Maradona bereitwillig instrumentalisieren. Er beginnt seinen Zauber, und die Reichen und Mächtigen bedienen sich seiner. Und er bedient sich bei ihnen. Keine Probleme: Verfolgen die Mafia und Maradona nicht die gleichen Ziele: den kleinen Mann auf der Straße in Neapel und andeswo glücklich zu machen? Das argentinische Militärregime weiß seine Künste ebenso zu schätzen wie die neapolitanische Camorra, die Havelangesche Fifa ebenso wie die Regierung des Carlos Menem. Maradona geht überall ein und aus. Er spürt die Wahlverwandschaft zwischen Politik, kriminellem Milieu und Unterhaltungsindustrie. Man braucht sich halt wechselseitig. Zudem: Kleine Menschen lieben es, im Mittelpunkt zu stehen, Sozialaufsteiger sowieso. Am schlimmsten sind kleinwüchsige Sozialaufsteiger, grenzenlos formbare 1,64 Meter bei Maradona.

Diese parasitären Nebenwelten des Fußballs, die das Spiel korrumpieren und ersticken, machen auch Maradona den Garaus. Aber gerade durch diese Verstrickungen wird seine Biographie zu mehr als der Geschichte eines hoch bezahlten Ballartisten. Sie seziert eindringlich die Figur des Superstars im Zeitalter der globalen Kulturindustrie. Maradonas Leben erscheint wie ein leibhaftiger Probelauf dieser neuen Kreatur einer riesigen Geldmaschinerie, einer Figur, die sich um so mehr in ihren Abhängigkeiten verstrickt, wie sie sich ihnen gegenüber autonom wähnt. Diese Mischung aus Weltstar und Wrack hat Zukunft und wird uns wohl noch einige Zeit begleiten.

Wer diesen Aspekt der Globalisierung verstehen will, sollte nicht zu Ulrich Beck oder Anthony Giddens greifen. Im Fuball wurde bereits in den 70er-Jahren geboren, was die Investmentbanker und Analysten erst in den 80ern entdeckten: dass die Erde ein Ball mit maximalen Ausbeutungsrenditen ist. Wie immer sind es die lebendigen Menschen, die an den Konsequenzen tragen. Maradona war einer der ersten. Seine tragische Größe besteht darin, die Verhältnisse befördert zu haben, die ihn am Ende zermalmten. Aber wie alle Ungleichzeitigen besitzt er den Charme des Authentischen und Unverdorbenen. Trotz aller Exzesse liebte er sein Handwerk, war besessen von der Leidenschaft, die Kugel seinem artistischen Willen unterzuordnen. Von den heutigen Fußballdienstleistern trennt ihn eine Welt.

Wir ahnen jetzt, was bereits alles verloren ist. Danke, Diego!