Die Ruhe der Vernunft

Während in Berlin die Geschichtsproduktion vielerorts auf Hochtouren läuft, verfolgt man in Polen das Geschehen am liebsten am Fernseher: Das polnische Kulturinstitut zeigt polnische Dokumentarfilme  ■   Von Helmut Höge

Wenn man einigen Literaturkritikern glauben darf, dann geht es überhaupt nur darum, dass den Männern und Frauen nachts am Lagerfeuer die Geschichten nicht ausgehen. Als die Intellektuellen und Künstler Osteuropas und namentlich der DDR sich anheischig machten, am Runden Tisch quasi mitzuregieren, verebbten ihre Geschichten sofort seicht in der Geschichte.

Nun scheinen sie sich aber wieder berappelt zu haben: Es werden Texte veröffentlicht wie verrückt. Weltmeisterin ist wahrscheinlich Anett Gröschner. Gerade erschienen gleich drei Bücher mit DDR-Geschichten von ihr, dazu eine umfangreiche Sammlung von AKW-Anekdoten aus Rheinsberg, die das dortige Literaturkontor bisher nur auszugsweise anbot.

Bei den mündlich vorgetragenen Geschichten führt derzeit Wladimir Kaminer, der ständig zwischen seinen Rundfunkstationen und den Kleinkunstbühnen des Prenzlauer Bergs unterwegs ist, daneben auch noch dickste Dostojewskis in Friedrichshain inszeniert und mit einem Assistenten regelmäßig zwei russische Musik-Shows – in den Cafés Zapata und Burger – auf die Beine stellt. Kaminer ist inzwischen fast nur noch über Handy mit seiner Bodenstation (Ground-Control Olga Guru) verbunden.

Wie wichtig daneben auch diesen Geschichtsproduzenten das zweite elektronische Medium, der Fernseher, ist, erkennt man an der Vielzahl von Veranstaltungen, die sich damit sozusagen direkt befassen: In der Volksbühne kommentieren Meyer und Kuttner regelmäßig und mit riesigem Erfolg Videoschnipsel aus alten Ost- und Westprogrammen, in der „Neuen Proletarischen Kunst“ imitieren Kitup und Kaminer TV-Clips per Handzeichnungen, und der Dichter Frank Willmann presste gerade sämtliche Ost-TV-Mythen in gereimte Dystichen: „Die Geschichte der DDR in 100 Lyren“.

Anders als in Berlin verfolgt man in Warschau das Geschehen im Fernseher, den man auch „das Lagerfeuer des 20.Jahrhunderts“ nennt, nicht bloß off-shore. Dort gelingt es dem TV-Redakteur Andrzej Fidyk inzwischen sogar, mit Dokumentationen zur besten Prime-Time regelmäßige 60-Prozent-Einschaltquoten zu erzielen.

Das nervöse – in Russland „schwarze Reportage“ genannte – Handkamera-Genre hat dort längst die Ruhe der Vernunft gewonnen. Auch und gerade wenn es sich bei den Autoren meist um prekär beschäftigte und ebenso rothaarige wie junge Filmemacherinnen handelt.

Das polnische Kulturinstitut stellt dieses Mal u.a. Arbeiten von Ewa Borzecka vor. Die Regisseurin ist anwesend. Während hier zu Lande zum Beispiel die Protagonisten einer abgewickelten LPG hartnäckig Eigensinn – gegenüber Westämtern, Treuhändern und Supermarktkonzernen – zumindest behaupten, organisieren sich autonom gebliebenene polnische Kolchos-Mitglieder als kriminelle Bande, die über sich selbst herfällt. Im Mittelpunkt des überflüssigen Ortes steht ein Mercedes fahrender Einzelhändler, der den Fertigen zwar in der Not kein Brot mehr verkauft, sie aber ohne Ende mit dem Billigwein „Arizona“ versorgt.

Ãhnlich herbe Geschichten wie „Arizona“ erzählt die Dokumentarfilmerin auch über Warschauer Obdachlose, die in der Kanalisation hausen, über allein erziehende Mütter, die sich vom Beischlafdiebstahl ernähren, und über eine südpolnische Witwe, die 13 Kinder zu versorgen hat. Die polnische Kritik sprach hierbei von „Pornographie“.

Tatsächlich ist der Porno inzwischen weltweit das größte Dokumentarfilm-Genre – und seine Wirklichkeit nicht weniger verroht, zumal in seiner neuesten Variante, dem Gang-Bang: In diesem versuchen bis zu 200 Männer eine Frau fertig zu machen. Der buchstäblich überwältigende Erfolg dieser hasserfüllten Reality-Splatter ist wahrscheinlich eine Reaktion auf die massenhaften Frauenkarrieren in den neuen Medien.

Werden doch einmal die möglichen Strategien, sich sauber ökonomisch frei zu strampeln, unter die Lupe genommen, wird das filmische Ergebnis sogleich verboten – wie etwa „Willkommen im Leben“, eine Dokumentation über die Schulung polnischer Amway-Verkäufer von Henryk Dederko (läuft auch im polnischen Kulturinstitut). Als Gegengift dazu sei – wie immer – ein westdeutscher Dumpfdiskurs empfohlen. Diesmal von der jungen Sozialwissenschaftlerin Margit Weihrich. Leseprobe: „Die perfekte Gemütlichkeit setzt indes Stimmigkeit voraus; Herrn Tikovskys Liebe zum Rotwein und das passende Setting symbolisieren seine Idealvorstellungen vom Umgang mit dem Leben ...“

Zitat aus ihrer Promotion an der Bundeswehr-Hochschule München: „Eine qualitative Paneluntersuchung der alltäglichen Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozess“.

So lange der Westen dem Osten derart „analytisch“ zusetzt, meinte gerade Christoph Hein – und erinnerte in diesem Zusammenhang noch einmal an den süddeutschen Schweineforscher, der zuletzt die „Verzwergung“ und Verzweiflung der Ostler auf ihre frühkindliche Erziehung zurückführte –, können wenigstens noch einige Ausländer hoffen, dass sich die Deutschen nicht so bald geballt gegen sie wiedervereinigen werden.

Heute und morgen, ab 19 Uhr: Dokumentarfilmnacht im polnischen Kulturinstitut, Karl-Liebknecht-Straße 7, Mitte