Der Müggelstraßen-Blues

■  Jeden Tag lehnen sie vor Haus Nr. 31 im Ostberliner Bezirk Friedrichshain. Herr Günther, Herr Axel, Frau Helene. Warum?

Friedrichshain war nie wohlhabend. Heute ist es arm: Menschen können ihre Mieten nicht zahlen, Menschen wohnen in Häusern ohne Heizung, Menschen haben keine Arbeit. Einerseits. Andererseits: Szene-Kneipen, edel sanierte Altbauwohnungen, schicke Boutiquen. Für die, die herziehen, ist Friedrichshain trendy oder ostig oder billig – aber auf jeden Fall angesagt – angesagter als der Prenzlauer Berg. Für die, die wohnen bleiben, ist das anders. Für sie ist Friedrichshain alltäglich, heruntergekommen, geliebt – eben ihr Kiez.

Eigentlich lehnen sie immer. Immer gegen die Hauswand von Haus Nr. 31. Morgens, wenn die Bauarbeiter aufs Gerüst steigen, lehnen sie da. Abends, wenn die Bauarbeiter wieder heruntersteigen, lehnen sie noch immer da. Doch wenn sich die Dunkelheit über die Dächer senkt, gehen sie langsam nach Hause. Erst löst sich ein Schatten aus der Gruppe. Dann ein zweiter, ein dritter, ich kenne das. So ist es jeden Abend. Sie wohnen ein paar Häuser weiter. Sie sind meine Nachbarn. Meine lehnenden Nachbarn in der Müggelstraße, Friedrichshain.

Auch Frauen lehnen. Gemeinsam mit den Männern lehnen sie, bis es Zeit ist, Licht zu machen in ihren Wohnungen. Das Haus Nr. 31 ist noch nicht saniert – und so lehnen sie an der grauen Wand: Herr Günther, Herr Axel, der Mann aus Sachsen und der Junge, der hautnah hinter mir hergeht, wenn ich die Straße entlangkomme. Damit die anderen la- chen müssen. Es gefällt dem Jungen, wenn sie lachen. Einmal bin ich stehen geblieben. Da hat er mich angerempelt und sich erschrocken.

Es lehnen auch der alte Mann mit dem Basecap, der junge Schnauzbart, der Alte mit dem Dackel und die alte Frau Helene aus Haus Nr. 4, gegenüber. Frau Helene ist die Älteste. Seit sie denken kann, wohnt sie hier. Und sie hat alles miterlebt: den Ersten Weltkrieg, den Zweiten, die DDR und schließlich die Wende. Es heißt immer „schließlich“ – als sei die Wende ein Schlusspunkt. Frau Helene ist 93.

Frau Helene wohnt im letzten Altbau der Straße. Auf der linken Seite. Dahinter steht grau ein Plattenbau, der die Müggelstraße von der Frankfurter Allee trennt. Der Plattenbau macht die Müggelstraße zum Wendehammer. Die meisten wenden hier, weil Parkplätze so rar sind wie Dollarnoten ohne Spuren von Koks. In allen Dollarnoten der Welt ist Koks nachweisbar. Sagen Experten. In allen Straßen in Friedrichshain ist Parken „die Hölle“. Sagt Herr Günther, und der wohnt schon lange hier. Ein paar Meter die Straße hinunter – dort, wo die Müggelstraße auf den Traveplatz trifft.

Im Sommer habe ich dort oft auf der Wiese gesessen. Wenn ich morgens kam, schliefen manche noch, und die Zeitungen, mit denen sie sich zugedeckt hatten, raschelten bei jedem Atemzug. Ich weiß nicht genau, warum meine Nachbarn immer an der unsanierten Hauswand von Haus Nr. 31 lehnen. Der Traveplatz wäre viel netter. Vielleicht ist ihnen der Geruch nach Hundescheiße zu penetrant. Oder Haus Nr. 31 teilt die Entfernung, die sie von ihren Wohnungen zum Treffpunkt jeden Tag gehen, gerechter: für jeden 32 Schritte. Oder 40, oder 102. Wahrscheinlich aber lehnen sie dort nur, weil der kleine Lebensmittelladen so nah ist.

Die Müggelstraße gehört gerade noch zu Friedrichshain. So 200 Meter östlich beginnt Lichtenberg. Vor fünf Jahren war die Proskauer Straße das Östlichste, was einem Menschen aus dem Westen zumutbar erschien. Die Proskauer Straße gehört zwar auch zu Friedrichshain, ist aber weiter westlich. Lieber als nach Friedrichshain zogen die Westler nach Prenzlauer Berg, denn auch dort bröckelten die Fassaden, ließ Steingrau das Baumgrün im Sommer erstrahlen, roch es im Winter nach Holzkohle. Das ist die Ost-Romantik, die Westler lieben. Prenzlauer Berg hat sich verändert, und auch in der Samariterstraße leuchten gestrichene Fassaden. In der Müggelstraße aber riecht es noch nach Kohleofen, und von Fassaden bröckeln die Reliefs. Für die Menschen aus dem Westen ist das romantisch, denn in den Wohnungen, in die sie ziehen, glimmt keine Glut. Heizkörper wärmen ihre Zimmer.

Herr Günther sagt, das mit den vielen Autos in der Müggelstraße hat mit der Wende zu tun. Weil seitdem alle viele Autos haben. Er erzählt: „Ich wurde 1952 im Bett des Erdgeschosses in der Hardtstraße 24 gefunden.“ Das war in Ostberlin. Obwohl die Eltern doch schon drei Kinder hatten. „Die Straßen, die Häuser, das Leben – das war doch alles Moder und Dreck. Kann mir keiner was erzählen“, sagt Herr Günther zu Herrn Axel. Er trägt eine blaue Trainingsjacke, eine Jeans, die zu tief sitzt, einen Schnauzer und einen Clownskranz aus aschbraunem Haar. Von Zeit zu Zeit tänzelt er zu Herrn Axel, der traurig-belustigt an der Hauswand lächelt, und lässt seine Faust haarscharf an Herrn Axels Gesicht vorbeischnellen. „Erzähl mir doch nix“, sagt er, Moder ist Moder und kaputt ist kaputt. Deshalb haben sie die Plattenbauten hochgezogen.“ Seine Hand verharrt in der Luft, und seine Finger weisen in Richtung Frankfurter Allee. Zum Wendehammer. „Erzähl mir doch nix“, wiederholt er.

Wenn Herr Günther in der Müggelstraße das Sagen hätte, sparte er sich die Sanierung. Dann risse er alle Altbauten nieder und baute neue aus gutem, haltbarem Stein. „Reko ist doch viel teurer, als wenn sie's einreißen würden“, sagt der Bauarbeiter, der keiner mehr ist. „Reko“ – das ist das Kürzel für „Rekonstruktion“. „Neu bauen ist billiger“, sagt er. „Ich wohne billig“, sagt Herr Axel. Er zahlt 275 Mark in Haus Nr. 6. Meine Mitbewohner und ich zahlen 1.500 Mark in Haus Nummer 28. Dafür haben wir Heizung.

Die Zettel im Hausflur sagen: „Wehrt euch, Mieter. Mindert die Miete.“ Die beiden DJ-Mädchen aus dem Stockwerk drüber – Ellen Alien und Braincandy – hören wilde Musik. Sie zahlen gar keine Miete mehr. Wir auch nicht. Sie sind aus dem Westen, wir sind aus dem Westen, und der Vermieter ist auch aus dem Westen. Irgendwo in der Eifel sitzt er mit seiner Kanzlei. Er ist Rechtsanwalt und will die Miete.

Viele aus dem Westen kamen und kauften Häuser im Osten. Auch in der Müggelstraße. Oder sie haben einfach die Häuser zurückverlangt. Das war noch billiger. Es sind schöne Häuser. Große, behäbige Altbauten. Herr Günther hat in einem von ihnen gewohnt – vor der Sanierung. Dann musste er ausziehen. Miete zu teuer.

Herr Günther lehnt seit einigen Jahren an der Wand. Vor fünf Jahren hat die Ärztin im Erdgeschoss seinen Bandscheibenvorfall diagnostiziert. Seitdem ist er Frührentner und nicht mehr auf dem Bau. „Meine Firma ist aber sowieso abgewickelt,“ sagt Herr Günther.

Fast immer lehnt er mit Herrn Axel. Der ist Ende dreißig und hat ein nettes Lachen. Seine braune Hornbrille passt zu den dunklen Locken, die an manchen Stellen schon graue Strähnen zeigen. „Erzähl mir doch nix“, sagt Herr Günther, aber Herr Axel nimmt einen großen Schluck aus der Dose und erzählt weiter. Erzählt nicht ihm, erzählt mir: „Ich kenne die Stadt gut. Bin schließlich Taxifahrer.“ Herr Günther sagt: „Unsere Stadt kennst du nicht.“ Herr Axel sagt: „Darum geht es doch gar nicht. Das ist auch meine Stadt.“ Herr Axel ist Taxifahrer, Herr Axel ist Schlagzeuger, und Herr Axel ist aus dem Westen. Kam rüber vor einigen Jahren. Konnte es nicht mehr aushalten im Westen. Ob er vor der Wende übergesiedelt sei? Herr Axel überlegt lange. Hebt die Dose zum Mund. Hält inne. Herr Günther und der Mann aus Sachsen lachen. Hämisch. Und Herr Günther sagt: „Erzähl mir doch nix“, und Herr Axel sagt: „Nein, nach der Wende. So 92, bin ich nach Lichtenberg. Mag den Westen nicht. Die Frauen tragen die Nase so hoch.“

Heute hat wieder der kleine Junge in unser Treppenhaus gepisst. Und geschissen. Kürzlich kam ich nach Hause und sah meinen Nachbarn die Treppe herunterjagen und schreien: „Ich krieg dich. Es reicht mit deiner Pisserei!“ Es sei immer dieser Junge, der unser Treppenhaus verschmutze. Mir macht das nicht viel. Es stinkt. Aber schmutzig ist unser Treppenhaus ohnehin. Braun auch. Großstadtschmutzig und ostbraun.

Braun wie die Hornbrille von Herrn Axel. Durch die schaut er traurig-belustigt, wenn die anderen Lehner nach Hause gehen, um Licht zu machen in ihren Wohnungen. Dann geht Herr Axel in die Kneipe unten an der Ecke zur Scharnweber Straße, ins dezibel. Dort haben ein Engländer und ein Deutscher die Wände mit Schwammtechnik bemalt. „Klar ist das eine Szenekneipe, trotzdem kann ich da rein und die auch“, sagt Herr Axel und zeigt mit schwankendem Arm abwechselnd auf Herrn Günther und den Mann aus Sachsen. „Die Simon-Dach-Straße ist voll mit solchen Szenekneipen. Da können wir aber nicht rein.“ Warum nicht? „Passt nicht“, sagt er. Herr Günther nickt.

In Monis Bierstübel haben sie gepasst, in Haus Nr. 26. „Die Moni war richtig klasse“, sagt Herr Axel, „wo die nur abgeblieben ist?“ Herr Günther vermutet: „Die Moni ist bestimmt zurück nach Thüringen.“ Dabei gehörte sie zum Inventar der Müggelstraße. Zum Ostinventar.

Dann, nach der Wende, war auf einmal unklar, wem das Haus gehört. Es gehörte Menschen aus dem Westen, die Moni einen Mietvertrag anboten. Sie wollten doch lieber erst sanieren. Erst wollten sie mehr Miete, dann zog Moni aus. Seither lehnen sie an der Wand von Haus Nr. 31: Herr Axel und Herr Günther, der Mann aus Sachsen, der Junge, der so nah hinter mir hergeht, der alte Mann mit dem Basecap, der junge Schnauzbart, der Alte mit dem Dackel und die alte Frau Helene.

Herr Axel tritt die Zigarette aus, Herr Günther setzt zum letzten Schluck an. Er will nach Hause, Licht machen in seiner Wohnung. Der Mann aus Sachsen auch. Es ist kalt, es war den ganzen Tag kalt, aber jetzt kriecht die Kälte feucht durch die Kleider. Herr Axel will noch ins dezibel, sie alle wollen ins Warme. Der Schatten von Herrn Axel ist der erste, der sich löst aus der frierenden Gruppe von lehnenden Menschen. Dann ein zweiter, ein dritter. Die Dunkelheit hat sich schon lange gesenkt. Jetzt senkt sich die Stille. Nur Bierdosen stehen noch auf dem grauen Fenstersims von Haus Nr. 31.

Franziska Reich