Hosenscheißer sind süß und steigern den Umsatz

Das Geschäft mit den kleinen Models boomt. Nicht nur für Windeln, auch für Computer werben Babys    ■ Von Horst Peter Wickel

Nürnberg (taz) – Verrückte Welt. Während das Statistische Bundesamt davon berichtet, dass die Deutschen zu wenig Kinder bekommen, kann sich Verena Pauli in München vor Anfragen und Aufträgen kaum retten. Und während die bundesdeutsche Bevölkerung schrumpft und vergreist, macht die Agentur Creartiv Kids mit hunderten von Babys neue Rekordumsätze.

Vor fünf Jahren gründete Verena Pauli die Kinder- und Jugendagentur, heute ist Creartiv Kids die Nummer eins in Europa, bei der sich Unternehmen und Zeitschriften die jungen Werbestars im Katalog aussuchen können. Eigene Kinder oder Blagen in der Nachbarschaft – ein Graus, doch strahlende oder plärrende Hosenscheißer in Anzeigen, Katalogen oder TV-Spots – ein Hit. Die stark emotionale Wirkung des Kindchenschemas, vor mehr als 50 Jahren von Konrad Lorenz entdeckt und beschrieben, wirkt auch beim modernen Wohlstandsbürger. Rundes Gesicht und große Augen, dazu die alle menschlichen Schutzinstinkte erregende Hilflosigkeit ließen Werber spätestens seit den 60er-Jahren die kleinen Krabbler immer wieder vor die Kameras zerren. Nicht nur die Hersteller von Kinderkleidung, Spielwaren, Windeln, Babynahrung oder Pflegemitteln sind inzwischen auf den Geschmack gekommen: ob Computer und Drucker, Energie oder Autos, Kaffee oder Männermode, Caravanurlaub, PVC oder Beton – für die unterschiedlichsten Produkte und Dienstleistungen müssen die Schnullerträger ihre kleinen Köpfchen hinhalten. Als Druckerhersteller Hewlett Packard in über 30 europäischen Ländern ein Baby als Blickfang brüllen ließ, um auf die sensationelle Geschwindigkeit eines Druckers hinzuweisen („So haben Sie früher jede Menge Zeit für Wichtigeres. Zum Beispiel für Ihren Nachwuchs“), konterte Konkurrent Epson wenig später. „Schluss mit dem Gejammer: Der Epson Stylus Color 900 ist doch schneller“, und dazu wurde ein wie bei Konkurrent Hewlett Packard gekleidetes Baby abgebildet – diesmal glücklich, zufrieden und ruhig. Epson-Unternehmenssprecherin Ingola Truijens: „Auf die Idee, mit einem Baby für unsere Drucker zu werben, wären wir von allein nicht gekommen. Ich denke aber, dass wir in einem solchem Fall von vergleichender Werbung richtig entschieden haben.“

Ansonsten lassen Unternehmen und Öffentlichkeit Scherze mit den Zwergen nicht zu. Als Stromversorger VEW eine Anzeige mit einem Winzling im Brutkasten schaltete, um auf die Bedeutung der Stromversorgung hinzuweisen, protestierten zahlreiche Mütter lautstark. VEW zog das Anzeigenmotiv zurück und wirbt seitdem lieber mit einigen Dutzend kleinen Windelträgern und der neckischen Aussage „Führt der Weg zu neuen Kunden für uns nur über Stromausfälle?“

Dabei sind, so hat Verena Pauli beobachtet, längst nicht mehr die „schönen, glatten Kinder“ gefragt, kleine Persönlichkeiten sollen es schon sein, mit unverwechselbaren Merkmalen. Selbst abstehende Ohren sind heute gern gesehen, rote Haare und Sommersprossen sowieso. Die meisten Kinder werden ohnehin im Ausland, in Südeuropa und in den USA, rekrutiert, denn in Deutschland gelten für Werbe-Shootings mit Kindern strenge Auflagen. Das Jugendschutzgesetz verbietet generell Kinderarbeit, gestattet aber künstlerische Betätigung. Dabei dürfen Posen, die ein Kind nicht natürlicherweise einnimmt, nicht verlangt werden. Und die Genehmigung des Gewerbeaufsichtsamtes für Baby- und Kinderaufnahmen muss lange vor dem Fototermin beantragt werden. Zur Vorbereitung auf ein Shooting müssen Eltern und Kinder einen eigenen Raum zur Verfügung haben, bei Filmaufnahmen ist sogar die Anwesenheit einer Kinderkrankenschwester vorgeschrieben. Längst nicht immer, weiß Verena Pauli, werden diese Auflagen auch eingehalten – eher werden Strafen der Behörde von den Agenturen oder Werbekunden gezahlt.

Viel Zeit, um üppige Gagen und Honorare zu kassieren, haben die Knirpse übrigens nicht. „Mit 15 Monaten kommt bei den meisten ein Knick“, sagt Verena Pauli. Bis dahin haben die Kleinen 100 DM pro Stunde bei Foto- und 200 DM pro Stunde bei Filmaufnahmen eingestrichen. Paulis Sohn, heute acht Jahre alt, ist noch immer stolz auf die ersten 5.000 DM, die er mit Werbefotos verdient hat. Ehrgeizige Muttis, die mit ihren Starallüren alle Beteiligten verrückt machen, hat Verena Pauli schon vorher aussortiert. Und neue Gesichter braucht die Münchner Creartiv-Chefin immer. Ihr Rat an Mütter: am besten schon bewerben, wenn das Kind noch gar nicht da ist. Dann können die wenigen Monate des aktiven Model-Lebens der Kleinen optimal genutzt werden.