Genosse Judas ist tot

Ibrahim Böhme, bekannter Oppositioneller in der DDR, SPD-Spitzenpolitiker der Wendezeit und Stasi-Spitzel, starb Sonntagnacht völlig vereinsamt  ■   Von Christian Semler

Er spielt seine Rolle als Verfolgter und Gerufmordeter mit Hingabe – und er erzählt die Geschichte seines anderen Ich

Berlin (taz) – Eine ansprechende Erscheinung, charmant, gebildet, kennt sich aus in der Geschichte der Arbeiterbewegung, zitiert die Klassiker, spricht glänzend Russisch. Statt des wildwüchsigen Vollbarts ein gepflegter Moustache. Statt des exzessiven Berliner Idioms gesetzte Redeweise. Endlich mal kein Pfarrer!

Wen wundert es da noch, dass die Sozialdemokratische Partei auf diesen Zugewinn aus der frisch gebackenen Ost-SDP abfährt? In den Wochen nach dem Gründungsparteitag der ostdeutschen Sozialdemokraten im Herbst 1989 ist Ibrahim Böhme in der westdeutschen Medienöffentlichkeit allgegenwärtig. Er wird zum Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten für die Märzwahlen der Volkskammer gekürt, und viele sehen ihn als ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR. Dann kommt, zwei Tage vor den Wahlen, der Absturz. Böhme wird als langjähriger Spitzel der Staatssicherheit enttarnt.

Aber obwohl die Indizien sich häufen, leugnet Böhme strikt jede Zusammenarbeit mit dem MfS. Am 20. April 1990 fragt ihn einer, der ihn gut zu kennen glaubte, der taz-Redakteur Matthias Geis:

„Dein überraschender Rücktritt von den Parteiämtern ist vielfach als Schuldeingeständnis interpretiert worden . . .“

Böhme: „Ich weise diesen Verdacht nach wie vor zurück. Er ist durch nichts begründet. Mein Rücktritt war deshalb kein Schuldeingeständnis. Ich fühlte mich allerdings verpflichtet, diese Entscheidung zu treffen, um meine Partei nicht durch einen angeschlagenen Vorsitzenden in Mitleidenschaft zu ziehen . . .“

So spricht ein verantwortungsvoller Genosse, der zudem in Aussicht stellt, innerhalb von drei Monaten eine Dokumentation zu erstellen, die nicht nur alle Vorwürfe entkräften, sondern auch die Verantwortlichen für das Komplott gegen Böhme beim Namen nennen wird.

Diese Rechtfertigungsschrift von Böhme ist nie erschienen. Noch ein paar Monate lang täuscht er seine Freunde und Bewunderer in Westdeutschland, dann erscheint, im Dezember 1990, die Dokumentation des Dichters Rainer Kunze, „Deckname Lyrik“.

Aus hunderten von Protokollseiten des MfS rekonstruiert Kunze die minutiösen Berichte Böhmes über jedes ihrer zahlreichen Gespräche. Kunze sieht Böhme als ein Werkzeug jener psychologischen Operation des Sicherheitsdienstes, die den Namen „Zersetzung“ trug. Hier ging es nicht darum, einen politischen Gegner auszuhorchen, um ihm anschließend den Prozess zu machen. Hier ging es um die Zerstörung von Persönlichkeiten. Kunze glaubte in Böhme einen Freund, einen Gleichgesinnten getroffen zu haben. Seine Geschichte eines Verrats überzeugt auch die hartnäckigsten der Verteidiger des ehemaligen „kleinen Königs“.

Böhme taucht ab in den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, das kurzzeitige Refugium enttarnter und noch nicht enttarnter intellektueller Stasi-Spitzel. Seine enttäuschten Freunde wollen ihn sprechen, ihn verstehen. Er weist sie ab. Schließlich stöbert ihn die Journalistin Birgit Lahann auf, die er nicht von früher her kannte. Aus den Tonbandprotokollen mit ihr entsteht „Genosse Judas“, ein eindrucksvolles, deprimierendes Buch, in dem Böhme als das Produkt einer Bewusstseinsspaltung erscheint.

Denn Böhme wird trotz der Konfrontation mit zentnerschweren Beweismaterialien nie zugeben, ein Stasi-Spitzel gewesen zu sein. Er spielt seine Rolle als Verfolgter und Gerufmordeter mit Hingabe – und er erzählt die Geschichte seines anderen Ich. Die beeindruckende Erzählung eines jahrzehntelangen DDR-Oppositionellen, der Gefängnis, Schikane und die Zerstörung seiner beruflichen Chancen als Lehrer erdulden musste.

Was Böhme Birgit Lahann erzählt, ist keineswegs Erfindung, ist nicht mal geschönt. Es ist die oberirdische Story, die unterirdische fehlt. Nicht nur bei Birgit Lahann erscheint Böhme als Mentor jugendlicher Wahrheitssucher, als undogmatischer Lehrer einer menschenfreundlichen Version des Marxismus-Leninismus, als empfindsamer Dichter und Bewunderer des großen russischen Schriftstellers Jessenin. Auch der Maler Volker Müller, damals Schüler in Greiz, schildert ihn im Rückblick in den Farben der Bewunderung, ja der Liebe. Erst als Müller den damals in Greiz lebenden Dichter Kunze für sich entdeckt, bricht Böhme brüsk den Kontakt zu ihm ab.

Der Lehrer der Jugend gilt seit der Invasion in die CSSR im August 1968 auch als Kämpfer. Er verbüßt in den 70er-Jahren eine Gefängnishaft, wird aber bald nach Neustrelitz entlassen, wo er eine Zeit lang am Theater arbeitet. Von dort geht es nach Berlin, zu den demokratisch, ökologisch und links gesinnten Menschen um die Kirche, die Umweltbibliothek, die Friedensinitiativen. Eine perfekte Legende des Staatssicherheitsdienstes. Später wird Gerd Poppe, einer der Gründer der Initiative „Frieden und Menschenrechte“, nach der Lektüre der Stasi-Protolle lakonisch resümieren: „Je enger wir befreundet waren, desto präziser wurden seine Berichte“.

Böhme hat Freunden und Bewunderern gegenüber einmal seine Rolle mit einem Zitat aus dem „Faust“ beschrieben. Er sah sich als Mephistopheles, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Tatsächlich hat er, erst in Thüringen, dann in Berlin, eine große Zahl von Menschen an das MfS verraten, die er gleichwohl durch seine politische Verführungsarbeit erst auf die Straße der entschiedenen Opposition geführt hatte. Er hat diese Doppelrolle gelebt, allerdings nie gemeistert. Zu abhängig war er von dem Übervater, der Staatssicherheit, die dem Wurzellosen ein autoritäres Elternhaus gab.