Russen ziehen Ring um Grosny zu

■  Tschetscheniens Hauptstadt zu 80 Prozent eingekreist. Zahl der Flüchtlinge steigt weiter. Früherer Beauftragter für Menschenrechte Kowaljow spricht von Rückfall in Sowjetzeiten

Urus-Martan/Moskau/Berlin (AFP/rtr/taz) – Russische Soldaten und Rebellen haben sich gestern in Tschetschenien unweit der Stadt Urus-Martan Gefechte geliefert. Ein Soldat sagte, die Armee erwarte den Befehl, den Ort rund 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Grosny zu stürmen, in dem sich 3.500 Rebellen mit schweren Waffen verschanzt hätten.

Am Wochenende entsandte die russische Führung tausend weitere Soldaten in die Region. Parallel zu den Kämpfen um Urus-Martan versuchte die russische Armee, alle Zufahrtsstraßen nach Grosny unter ihre Kontrolle zu bekommen. Nach Militärangaben ist Grosny inzwischen zu 80 Prozent eingekesselt. Wie die russischen Streitkräfte in der Nacht zu gestern mitteilten, wurde der Belagerungsring um Grosny entsprechend enger gezogen. Dort bereiteten sich rund 6.000 Rebellen auf die Verteidigung der Hauptstadt vor, erklärte das russische Kommando. Das Fernsehen zeigte russische Einheiten, die nördlich und östlich von Grosny verschiedene Orte unter ihre Kontrolle brachten.

Derweil reißt der Flüchtlingsstrom aus der Tschetschenien nicht ab. Die russische Einwanderungsbehörde erklärte gestern, insgesamt seien 222.556 Menschen geflohen. Nach Angaben des Innenministeriums vom Montag verließen in 24 Stunden über den einzigen geöffneten Grenzübergang mehr als 1.850 Menschen die Republik. Die Einwanderungsbehörde gab an, mehr als 21.790 Menschen seien der Aufforderung des russischen Militärs gefolgt und in ihre Heimat zurückgekehrt.

Die russischen Behörden baten die Flüchtlinge eindringlich, in die nach ihren Worten befreiten Ortschaften zurückzukehren. Sie versicherten, dass ausstehende Löhne und Renten gezahlt würden und auch die Versorgung mit Gas und Strom sichergestellt sei.

Der ehemalige Menschenrechtsbeauftrage Sergej Kowaljow bezeichnete den „Kampf gegen Terroristen“ als Vorwand der russischen Regierung, um sich Rückhalt für ihre militärischen Aktionen in der Gesellschaft zu verschaffen. In Wahrheit ginge es darum, willfährige Handlanger Moskau als Regierung im Kaukasus einzusetzen. Zu diesem Zweck werde eine Atmosphäre geschaffen, die durch einen Hurra-Patriotismus und die Maxime „Kampf bis zum letzten Tschetschenen“ gekennzeichnet sei, sagte Kowaljow vor Journalisten in Berlin.

Er fühle sich in totalitäre Sowjetzeiten zurückversetzt. Die Presse erteile denjenigen das Wort, die Blut fordern und verbiete denjenigen den Mund, die sich gegen den Krieg aussprächen. Kowaljow appellierte an den Westen, Druck auf Russland auszuüben, um dort den Krieg zu beenden. Aber auch in Tschetschenien müsse auf bestimmte Kreise Druck ausgeübt werden, verbunden mit der Garantie rechtsstaatliche Prinzipien wieder her- und sicherzustellen. bo