Stadtflucht macht frei

Sind die Innenstädte zu Shoppingmalls verkommen? Oder lassen sie sich feiern als Vergnügungsorte für Urbaniten der Marke neue Mitte? Der nationale Städtebaukongress diskutierte in Berlin über die Angst vor Verödung der Metropolen  ■   Von Rolf Lautenschläger

Immer zur Weihnachtszeit pflegte der Architekt Charles Moore eigens gezeichnete Grußkarten an seine Freunde zu verschicken. Auf den Bildchen aus Santa Monica waren wilde Stadtlandschaften, Luftschlösser voller Urbanität und eng gebaute Häuser zu sehen. Von diesen führten Himmelsleitern in die Wolken und Seile hinauf zu Montgolfieren. Was so lustig daherkam, hatte zugleich einen tiefen Sinn. Mit den Postkarten versandte der kürzlich verstorbene Architekt seine Visionen vom irdischen Jerusalem: der dichten, kompakten Stadt.

Von Moores Botschaft gebauter Urbanität und Mischung sind am Ende des Jahrhunderts die Städte – auch die deutschen – weiter entfernt denn je. Zum Leitbild ihrer Planer avanciert nicht mehr die „europäische Stadt“, sondern ihr amerikanisches Gegenmodell. Waghalsig wie in den 60er-Jahren entwerfen die Architekten Downtowns, Einkaufszentren und Shoppingmalls als städtische Substitute. Übermütig kommen Masterpläne auf den Tisch, die als Instrumente wenig taugen, Quartiere zu erhalten oder gar neue zu schaffen. Was daraus folgert, orakelte der Architekt Kunibert Wachten schon vor Jahren, seien die modernistischen Innenstädte mit Bürovierteln einerseits und die ausufernden Stadtrandzonen andererseits.

Was also tun? Am Wochenende wurde in Berlin über Perspektiven und neue Bilder des Städtischen getagt. Eingeladen zu dem dreitägigen „nationalen Städtebaukongress“ mit dem Titel „Stadt, Planung, Akteure“ hatte der Bundesbauminister rund 500 Architekten, Planer und Baupolitiker. Ziel der Veranstaltung war, zukunftsweisende Strategien zu entwickeln, die als deutscher Beitrag für die Weltkonferenz „Urban 21“ im Jahr 2000 in Berlin herhalten können.

Als Ort der Handlung hatte man den Potsdamer Platz in Berlin ausgesucht – keine schlechte Wahl, konnte man doch hier studieren, wohin die Reise geht: die Stadt als Marketingmodell. Wer als Kongressteilnehmer kein Geld in der Tasche hatte, sah in den Pausen schlecht aus. Der öffentliche Raum, der Marlene-Dietrich-Platz, war wegen Schneegestöbers tabu. Und wer sich in der dicht gebauten Kulissenlandschaft verlief, fand sich zwischen Restaurants oder der Einkaufsmeile Potsdamer Platz Arkaden wieder.

„Der Potsdamer Platz ist eine bauliche Insel, ein aus der Vorstadt in die Innenstadt geholtes Einkaufszentrum“, brachte der Stadtsoziologe Werner Sewing die Sache auf den Punkt. Hier wird, ebenso wie bei anderen Megaprojekten der Republik (etwa in Oberhausen oder Frankfurt), „Stadt gespielt“, weil es die echte immer weniger gibt. Die Akteure so großer Shoppingmalls sind die Investoren, das Kapital und ihre Konsumenten. Die Stadtgesellschaft als Ganzes hat darin wenig Raum.

Widersprochen haben Sewing auffallend viele der anwesenden deutschen Baumeister. Der Architekt Hans Kollhoff etwa und Hans Stimmann, Stadtplaner in Berlin, oder aber Christian Holz-Rau, Verkehrsexperte aus Dortmund. Der Potsdamer Platz bilde ein „Beispiel europäischer Stadtkultur“ für den modernen Menschen, sagte Stimmann. Gemeint ist freilich der „Urbanit“ der neuen Mitte mit Geld in der Tasche und von Beruf wahrscheinlich Architekt.

Auch die Analyse von Hajo Hoffmann, Präsident des Deutschen Städtetags, der „die aktuellen Trends des Städtebaus“ als Horrorszenario an die Wand malte, konnte die Architekten nicht schrecken. Die Entwicklung der Städte und Gemeinden, so Hoffmann, wird in den kommenden zehn Jahren nicht nur durch große Zuwanderungen bestimmt. „Zugleich wachsen die Stadtregionen, aber nicht im Kern, sondern an den Rändern.“

Nach einer Studie des Bundesbauministeriums pendeln bereits heute 75 Prozent aller Erwerbstätigen. In den vergangenen fünf Jahren entstanden allein 65.000 neue Wohnungen im Berliner Umland, kaum weniger sind es in den Regionen Frankfurt/Wiesbaden oder im Ruhrgebiet. Selbst in Rostock sind fast 40.000 Menschen vor die Tore der Stadt gezogen. Dies zieht nicht nur „ökologische und strukturelle Fehlentwicklungen“ wie Verkehr und Leerstand in den Innenstädten nach sich, folgerte Hoffmann. „Die Wanderbewegungen führen zudem zu einer Polarisierung der Sozialstruktur der großstädtischen Bevölkerung.“ Die Einkommenstarken erwerben – mit Hilfe staatlicher Subventionen – im Umland Immobilien, die sozial Schwachen, Alten und Modernisierungsverlierer bleiben in der Stadt zurück.

Neu ist dieser Prozess nicht: New York hat sich in den 70er-Jahren mit einer derartigen Entwicklung ruiniert. Die Stadt war pleite, verkam, und ihre Bewohner kehrten dem Ort den Rücken. Das Bild vom „Schmelztiegel Stadt“, jener Vision des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit ihren ästhetischen und kulturellen Differenzierungen sowie den vielen sozialen Milieus, droht dadurch „zu erlöschen“, wie Christiane Thalgott, Baustadträtin aus München, ergänzte.

Macht nicht mehr Stadt, sondern Stadtflucht frei? „Die Menschen verlassen die Stadt“, konstatierte lapidar Daniel Libeskind noch in dieser Woche. Und die Architekten sind treue Erfüllungsgehilfen für die neue Spezies der Suburbaniten. Weil in den Zentren „sich das Bild von der kompakten Stadt auflöst“, wie der Darmstädter Hochschullehrer Thomas Sieverts meint, gilt es nun, „die realen Bedürfnisse der Menschen nach Mobilität, Eigentumsbildung oder Freizeit“ im Speckgürtel baulich zu befriedigen.

Fast beängstigend konkret muteten Sieverts Absichten an. Mit der Stadt im Rücken will der Planer die neuen Siedlungen aufwerten: Man „bestrafe“ das Umland, wenn man es hässlich macht, fand er und plädierte für schöne Einfamilienhausparks und Shopping-Center von „guter Qualität“. Kommen noch ein paar Arbeitsplätze sowie „gute Adressen“ hinzu, hat sich die „Peripherie vom Zentrum emanzipiert“.

Bei so viel Unsinn wäre den Architekten der „kritischen Rekonstruktion der Städte“ in den 70er- und 80er-Jahren der Kragen geplatzt. Doch der Kongress schwieg. Es scheint, als haben sich Planer heute nicht nur von der Stadt als kulturellem, sozialem und ökonomischem Modell in Europa verabschiedet, sondern auch von allen guten Geistern ihres Metiers. Stattdessen träumen sie von der entmischten Stadt im Zentrum und von den suburbanen Planetensystemen an der Peripherie. Sind das überhaupt Träume? Wohl kaum. Eher die neue Realität.