Ich will doch nicht viel, sag ich dann“

Menschen ohne Papiere. Leben in der Illegalität und in Angst vor Entdeckung. In Belgien können Illegale jetzt einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung stellen, wenn sie mehr als sechs Jahre im Land leben  ■   Aus Brüssel Daniela Weingärtner

Aber eines Tages fragte ein deutscher Polizist nach seinem Pass. Achtundvierzig Stunden später war er zurück in Quito

Als Marie-Sol das Mädchen an der Ampel stehen sah, wusste sie sofort Bescheid. „Ich sah am Gesichtsschnitt, dass es eine von uns ist. Und ich sah an ihren Augen, dass sie Probleme hatte.“ Sie nahm Carmen mit zu sich nach Hause. Ihre Geschichte war schnell erzählt. Es ist immer die gleiche Geschichte.

Carmens Mann verdiente nicht genug, um die Familie zu ernähren. Es fehlte an allem zu Hause in Ecuador: Kleidung, Schulgeld für die beiden Töchter. Von einer Freundin aus dem Nachbardorf wusste Carmen, wie sie es anstellen musste. Sie lieh sich 3.000 Dollar von einem Geldverleiher, zum Zinssatz von zehn Prozent monatlich, und kaufte für die Hälfte des Betrags ein Flugticket Quito – Brüssel und zurück. Dann rief sie die Cousine ihrer Freundin an und gab ihr die Ankunftszeit durch.

In Brüssel am Flughafen ging alles glatt. Die Beamten ließen sich das Rückflugticket zeigen und fragten, wie lange sie bleiben wolle. Zehn Tage, sagte Carmen. Hundertfünfzig Dollar pro Tag müssen Einreisende von außerhalb der EU vorweisen können, um den Touristenstempel zu bekommen. Sie hatte 1.500 Dollar bei sich.

Carmens Erleichterung verflog, als sie merkte, dass die Cousine ihrer Freundin nicht gekommen war. Sie nahm ein Taxi zu der Adresse, die auf ihrem Zettel stand, aber das Mädchen lebte dort nicht mehr. Die Nachbarn hatten keine Ahnung, was aus ihr geworden war.

Tagelang irrte Carmen durch Brüssel. Sie wusste nicht, dass es in der Stadt mehrere Organisationen gibt, die bei der Zimmersuche helfen, Jobs besorgen, Sprachkurse und medizinische Betreuung anbieten. Sie wusste nur, dass sie andere Ecuadorianer finden musste, und zwar schnell. Nur Landsleute konnten ihr helfen, sofort Arbeit zu finden. Sie musste so schnell wie möglich Geld nach Hause schicken, denn mit jedem Tag wuchsen die Schulden beim Geldverleiher.

Marie-Sol nahm Carmen mit nach St. Gilles, in die Zweieinhalbzimmerwohnung, wo sie mit ihrem Mann José und einer Cousine wohnt. „Ich habe José erzählt, wie ich sie gefunden habe. Er war einverstanden, dass sie eine Zeitlang bei uns bleibt.“ Als José 1992 nach Brüssel kam, gab es nur eine Handvoll Ecuadorianer in der Stadt. „Es ist wie eine Kette. Einer zieht den anderen nach. Ich weiß nicht genau, wie viele wir jetzt sind, mehrere tausend bestimmt.“

Er selber hatte es Ende der 80er Jahre in Deutschland versucht, ein bisschen mit Leder gehandelt, in Mannheim in einer Kneipe gekocht. Hundertsechzig verschiedene Gerichte konnte er am Ende auf die Teller bringen, noch heute erzählt er stolz davon. Aber eines Tages fragte ein deutscher Polizist nach seinem Pass. Achtundvierzig Stunden später war er zurück in Quito.

Es hat sich in den armen Ländern schnell herumgesprochen, dass die Festung Europa derzeit in Belgien bröckeliger ist als anderswo. Das belgische Innenministerium schätzt, dass mehr als 100.000 Menschen ohne Aufenthaltsberechtigung im Land leben. Auch die Asylbewerberzahlen sind sprunghaft angestiegen. Im Jahr 1997 beantragten 11.787 Menschen in Belgien Asyl. 1998 waren es 21.964. Ende September diesen Jahres zählte man bereits 24.500 Neuanträge für 1999. Mit einer Politik der „Festigkeit und Menschlichkeit“ will die neue Regierung aus Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen das Problem in den Griff bekommen. Energische Abschiebungen einerseits, ein einmaliges Legalisierungsverfahren für so genannte „Clandestins“, also „Heimliche“, die seit Jahren in Belgien leben und hier Bindungen entwickelt haben, andererseits.

Schon Anfang Oktober machte die neue Regierung klar, dass sie es zumindest mit der „Festigkeit“ ernst meint. Zwei Roma-Familien wurden in die Slowakei abgeschoben, obwohl sie beim Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einen Aufschub erreicht hatten. Die Eilentscheidung sorgte innenpolitisch für Aufregung, die grünen Regierungsmitglieder wurden von ihrer Basis scharf angegriffen.

Ende Oktober sollte der Programmpunkt „Menschlichkeit“ folgen. Die Regierung Verhofstadt hatte einen Erlass formuliert, der die Einzelheiten regeln sollte. Bürgerinitiativen und Flüchtlingsgruppen, die seit Monaten mit Demonstrationen und Kirchenbesetzungen auf ihre Lage aufmerksam gemacht hatten, jubelten. Die „Koordinationsstelle für Flüchtlinge und Ausländer“, größte frankophone Hilfsorganisation Belgiens, bereitete ihre Mitarbeiter darauf vor, innerhalb von drei Wochen die Dossiers aller Antragsteller zusammenstellen zu müssen. Zwischen 50.000 und 75.000 Illegale, so schätzt das belgische Innenministerium, könnten eine unbegrenzte Aufenthalterlaubnis bekommen. Doch der rechtsradikale Vlaams Blok ließ die Regierungsinitiative wegen eines Formfehlers platzen. Jetzt muss die Neuregelung erst ein parlamentarisches Verfahren durchlaufen und wird Anfang nächsten Jahres in Kraft treten.

„Es ist wie eine Kette. Einer zieht den anderen nach. Ich weiß nicht, wie viele wir sind, mehrere tausend bestimmt.“

Für José und Carmen wird sich dadurch nichts ändern. Die beiden haben weder einen Asylantrag gestellt, der vier Jahre unentschieden blieb, noch können sie glaubhaft machen, dass sie schwer krank sind oder eine Rückkehr nach Ecuador aus anderen Gründen für sie unmöglich wäre. Wie für die meisten Illegalen käme für sie eigentlich die vierte Kategorie in Frage: dauerhafte soziale Bindungen zum Gastland Belgien. Wer beweisen kann, dass er seit mehr als sechs Jahren in Belgien lebt oder auf andere Weise hier enge Bindungen erworben hat, kann seinen Fall einer Kommission vortragen und darauf hoffen, die Aufenthaltsberechtigung zu bekommen. Ein Angebot, das in den Ohren vieler „Sans Papier“ gedankenlos und zynisch klingt. Es gehört zur Überlebensstrategie eines „Heimlichen“, gerade keine Spuren seiner Existenz zu hinterlassen. José musste einen Vermieter finden, der bereit war, als Strohmann für ihn Gas, Strom und Telefon anzumelden. Inzwischen hat er sogar einen klapprigen Laster gekauft, der auf den Namen seines Vermieters zugelassen ist. Solche Dienste werden meist in einer Mischung aus Menschenfreundlichkeit und Chuzpe angeboten. Leben und Lebenlassen, dem Staat ein Schnippchen schlagen – das gehört zur belgischen Lebensphilosophie. Aber es ist natürlich auch sehr praktisch, handwerklich geschickte und zur Dankbarkeit verpflichtete Mieter zu haben, die sich nie beschweren und gegen keine Zumutung wehren. „Wenn einer von uns umzieht, kann er die zwei Monatsmieten Kaution meist abschreiben“, erzählt José. „Man senkt den Kopf und sagt auch noch danke schön, so ist unser Leben.“ Auch wenn ihm marokkanische Jungen aus der Nachbarschaft aus Gaudi die Scheiben einschmeißen oder wenn Marie-Sol wochenlang keinen Lohn für ihre Putzarbeit bekommen hat – es gibt für einen Illegalen keine Möglichkeit, seine Rechte einzuklagen.

Marie-Sol ist die Einzige in der Wohngemeinschaft, die vor der Regularisierungskommission Chancen haben könnte. Sie hat drei Jahre lang eine belgische Arbeitserlaubnis besessen, ohne je aufenthaltsberechtigt gewesen zu sein. Eine deutsche Diplomatenfamilie war mit ihrer Arbeit so zufrieden, dass die Dame des Hauses eines Tages fragte, ob sie ihr nicht Papiere besorgen solle. Der Ehemann gab den belgischen Behörden gegenüber an, die Hausangestellte aus Deutschland mitgebracht zu haben. Die Arbeitserlaubnis wurde ausgestellt. Die Entscheidung, ob ein solcher Nachweis für eine Regularisation ausreicht, wird bei den Kommissionen liegen. Sie sollen jeweils aus einem Gemeindevertreter, einem Rechtsanwalt und dem Mitarbeiter einer Flüchtlingsorganisation bestehen. Entscheidet das Gremium positiv, ist dieser Beschluss bindend für die Regierung. Meldet die Kommission Zweifel an, kann die Regierung dennoch zugunsten des Antragstellers entscheiden. Die meisten Flüchtlingsorganisationen raten ihrer Klientel, die Chance zu ergreifen. Mario Gotto, Chef der „Koordinationsstelle für Flüchtlinge und Ausländer“ glaubt, dass es auf Jahre hinaus keine weitere Legalisierungskampagne geben wird. Die Angst vieler Illegaler vor den Behörden hält er für unbegründet. „Wir konzentrieren uns jetzt darauf, möglichst viele mit Papieren zu versorgen. Um diejenigen, die nicht anerkannt werden und vielleicht dann von Abschiebung bedroht sind, kümmern wir uns in einem nächsten Schritt.“ Als Marie-Sols Arbeitgeber, der deutsche Diplomat, versetzt wurde, wollte die Familie Marie-Sol mitnehmen nach Deutschland. Da hatte sie aber gerade ihren José kennengelernt. So blieb sie in Belgien und schlüpfte zurück in die Illegalität. Nächsten Juni soll das erste Baby auf die Welt kommen. Nur wenige Frauen in ihrer Lage wagen es, eine Familie zu gründen. Der überwiegende Teil der Ratsuchenden, die sich an die Hilfsorganisationen wenden, sind Alleinstehende. Aber auch schwangere Frauen werden betreut. Sie müssen nur die Schlupflöcher kennen. Marie-Sol hat ein Faltblatt mit der Adresse bekommen, wo die Vorsorgeuntersuchungen kostenlos durchgeführt werden. Bezahlen muss sie nur den Ultraschall – pauschal sechzig Mark – und die Blutuntersuchungen im Labor. Einmal schon war sie im Hopital St. Pierre, um zu fragen, ob sie dort entbinden kann. Der Arzt hat ihr geraten, im Anmeldeformular eine falsche Adresse anzugeben. Dann könne die Rechnung später nicht zugestellt werden und der Fall sei für sie erledigt.

„Allemana, Allemana“, sagt Marie-Sols Mann verträumt. Er denkt noch immer an die hundertsechzig deutschen Gerichte, die er in Mannheim auf den Teller brachte und an seinen netten Chef dort. Aber die Polizei – José schüttelt sich. Niemals wieder möchte er eine Abschiebung auf deutsche Art erleben. Was aber wäre, wenn ein belgischer Polizist nach seinen Papieren fragen würde? José lacht. Das ist schon passiert, öfter sogar. „Da darfst du nicht lügen, aber auch nicht alles erzählen. Da brauchst du ein bisschen Psychologie. Ich will doch nicht viel, sag ich dann. Ich nehm euch doch nichts weg.“ Bis jetzt hat es jedes Mal funktioniert. Der Polizist hat gelacht und den Pass zugeklappt. „Vielleicht sind sie zu faul, ein Protokoll zu schreiben“, sagt José nachdenklich. „Ich glaube, die deutschen Polizisten haben dazu auch keine Lust. Aber sie tun es doch.“