Die Obskurität des Seins

Nebulöse Reportage vom Match Hertha – FC Barcelona, das undurchsichtigen Gerüchten zufolge ungefähr 1:1 ausgeht    ■ Aus dem Nichts Matti Lieske

Hallo, liebe Hörerinnen und Hörer, da sind wir wieder. Live aus dem Olympiastadion, exklusiv für Sie, das Team vom Spaßradio Fun, Fun, Fun. Ich melde mich von der brisanten und sensationellen Champions League-Partie der Berliner Hertha gegen die katalanischen Gäste vom FC Barcelona, dem Treffen zweier Mannschaften, für die Champions League und nationale Liga in diesem Jahr ganz klar zwei Paar Schuhe sind. Siebenmeilenstiefel in Europa, Klapperlatschen zu Hause, um es mal salopp auszudrücken. Besonders die Berliner wissen in der Bundesliga ja selten, wo die Musik spielt bzw. wo der Ball rollt, bekommen eine Klatsche nach der anderen und werden wohl absteigen. Macht nichts, dafür gibt es ja erstmals seit zwanzig Jahren tolle Matches gegen tolle Gegner, Chelsea, Milan, Barça, Fußballherz, was willst du mehr, und wir vom Spaßradio Fun, Fun, Fun immer dabei.

Der FC Barcelona. Zuletzt drei Niederlagen in Folge, und schon melden sich in Katalonien wieder die ersten Stimmen, die behaupten, dass Niederländer nicht Fußball spielen können und schon gar nicht eine Mannschaft trainieren. Doch Louis van Gaal, den Coach, lässt das kalt, und wenn sich seine Kritiker nicht vorsehen, holt er auch noch Davids, Rensenbrink und van Burik, ha, ha, kleiner Scherz, das macht Spaß. Zwei gebrannte Kinder also, die in der Champions League die Kastanien aus dem Feuer holen müssen, das ihnen in der heimischen Liga unter dem Hintern angezündet wird, eine prächtige Konstellation, und überhaupt, der FC Barcelona im Olympiastadion, das hat Berlin lange nicht gesehen.

Und wird auch sobald keine Gelegenheit dazu bekommen. Nebel hat sich über das Stadion gesenkt. „Irgendwo da oben gibt es jemanden, der sieht alles, und irgendwann bekommt man, was man verdient“, hat Hertha-Trainer Jürgen Röber nach dem 0:1 gegen Kaiserslautern sinngemäß gesagt, und prompt wurde seine Prophezeiung wahr. Irgendwer da oben hat einen barmherzigen Schleier über das Spiel seines Teams gelegt, der jeden Fehlpass, jeden Stellungsfehler, jede Überhast der Spieler gnadenreich verhüllt. Tapfer gekämpft, wird Röber am Ende sagen, schön kombiniert, ein gerechtes Resultat erzielt, und niemand wird da sein, der ihn widerlegen könnte.

Ich glaube, das Spiel hat inzwischen begonnen, mit Gewissheit sagen kann ich es nicht, denn die ganze Angelegenheit gestaltet sich zunehmend intransparent. Würde ich meine Kabine verlassen und zwei Schritte weggehen, könnte ich mich schon nicht mehr sehen, nur um ihnen einen Eindruck zu vermitteln, wie es hier aussieht, oder vielmehr nicht. Ein seltener Moment radiohistorischer Gerechtigkeit also, in dem Sie, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer vor den Geräten, genausoviel sehen wie der Reporter vor Ort, oder eigentlich mehr, denn Sie sehen immerhin das Radio. Da, da, unfassbar, ein kleines Nebelloch in der Obskurität des Seins. Ich sehe einen Schemen, zwei Schemen, drei Schemen, helle Schemen, das müssen Herthaner sein, ein leicht gebückt rennender Schemen, also Andreas Thom, hat einen winzigen Schemen in der Nähe des Fußes, jetzt nicht mehr, entsetztes Stöhnen in der Kurve hinter dem Tor, vorbeigeschossen. Und da sind sie schon wieder, die hellen Schemen, mein Gott, erklären Sie mich für verrückt, erklären Sie mich für wahnsinnig, erklären Sie mich für blind, das sieht ja nach Offensive aus, sehr wenige dunkle Schemen in der Nähe, enttäuschtes Stöhnen, aha, Preetz.

Nun sehe ich wieder gar nichts mehr, was mir Gelegenheit gibt, der Frage nachzugehen, was ist eigentlich Nebel? Keine Angst, liebe Zuhörererinnen und Zuhörer, Sie verpassen nichts außer einer weißen Wand, die im Moment mit Schieber-Rufen eingedeckt wird, weil die Gegengerade angefangen hat zu pfeifen. Da sieht man es wieder, egal, ob Sicht oder nicht, schuld ist immer der Schiedsrichter. Irgendein Herthaner wurde jedenfalls umgenietet. Ob von Zenden, de Boer oder Jack the Ripper, wer vermag es zu sagen? Ja, was ist Nebel? Umgekehrt analog zu Flann O'Briens genialem Wissenschaftler De Selby, der Nacht nicht als das Fehlen von Sonnenstrahlen, sondern als Ansammlung schwarzer Luft definiert, könnte man vielleicht am ehesten sagen, dass Nebel die Abwesenheit von Sicht ist. Und das ist schade. Inzwischen steht es übrigens 1:0 für Barcelona, warum, weiß ich auch nicht, aber wir werden in der Halbzeit Torwart Kiraly fragen, ob er möglicherweise etwas mitbekommen hat.

Oha, jetzt spielen sie über rechts, was mir wieder einige Schemen beschert. Einwurfschemen sozusagen. Ich sehe sogar den Ball, da ist er, ganz deutlich kann ich ihn erkennen, weg ist er, mitsamt einem ungefähr gleich großen Schemen, bei dem es sich nur um Dariusz Wosz handeln kann. Ich höre Gebrüll aus östlicher Richtung, offenbar ist der Ausgleich gefallen, wir melden uns wieder nach der Pause, falls wir die Kabine finden.

So, da sind wir wieder bei Spaßradio Fun, Fun, Fun, mit brandheißen Neuigkeiten. Es steht in der Tat 1:1, das Tor für Barcelona soll nach den Berichten einiger obskurer Augenzeugen per Kopf von Luis Enrique erzielt worden sein, der Ausgleich von Kai Michalke per Flachschuss. Diese Angaben allerdings wie immer ohne Gewähr. Möglicherweise geht das Spiel jetzt weiter, vielleicht ist es aber auch schon abgebrochen worden. Sie wissen ja, da gibt es diese alte Faustregel, dass gespielt werden muss, so lange der Linienrichter noch seine Fahne sieht, und nach dieser Regel wird hier knallhart verfahren. Anderenfalls müsste das Match am nächsten Tag um zehn Uhr morgens zu Ende geführt werden, was gar nicht geht, weil ja jeder weiß, was für Langschläfer diese Katalanen sind. Außerdem: Hertha gegen Barcelona, der Knaller der Champions League, vor ein paar verirrten Rentnern, Arbeitslosen und Schulschwänzern, das wäre wirklich nicht einzusehen. Dann doch lieber ungesehener Nebelfußball vom Feinsten, wie ihn die beiden Teams jetzt in Vollendung bieten. Oder vielleicht auch nur ein Team, denn ich habe lange keinen hellen Schemen mehr gesehen, nur dunkle. Aber vielleicht hat der Schiedsrichter die Barça-Spielhälfte auch bloß wegen fortgeschrittener Trübseligkeit gesperrt. Im übrigen scheint es noch ein paar privilegierte Personen direkt hinter dem Hertha-Tor zu geben, deren Entsetzensschreie bis zu uns heraufdringen. Die Berliner stehen offensichtlich unter Druck, aber wir brauchen uns keinerlei Sorgen zu machen, es ist ja nicht Bundesliga, sondern Champions League, und das beherrscht die Hertha.

Wo sind eigentlich alle hin auf einmal? Moment, ich gehe mal ein bisschen nachtasten. Ja, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, da bin ich wieder. Das Stadion ist leer, das Spiel scheint vorbei zu sein. Auf der Anzeigetafel steht ein 1:1, kann aber auch 7:7 heißen. Was soll's an einem Tag wie diesem. Ich bedanke mich, bitte um Nachsicht und gebe zurück ins Dudelhaus.

Folgende Mannschaftsaufstellungen wurden durch den Nebel kolportiert:

Hertha BSC: Kiraly - Rehmer (72. Veit), van Burik, Sverrisson, Konstantinidis - Thom, Schmidt, Wosz, Michalke (87. Herzog) - Daei, Preetz

FC Barcelona: Hesp - Reizinger, Frank de Boer, Dehu, Zenden - Luis Enrique, Guardiola, Cocu - Figo, Kluivert (72. Dani), Ronald de Boer (69. Simao Sabrosa)

Zuschauer: 60.530, Tore: 0:1 Luis Enrique (14.), 1:1 Michalke (33.)