Das Netz ist wie ein Darkroom

■  Der Weg zu Beratung und Selbsthilfegruppe fällt vielen schwer, die befürchten, an einer HIV-Infektion zu leiden. Das Internet kann ihnen am besten helfen. Hier dürfen sie anonym bleiben und finden trotzdem sachkundigen Rat

Zuhören, Lernen, Leben“ – unter dieses Motto hat die Welt-Aids-Organisation UNAIDS den kommenden 1. Dezember gestellt. Im Mittelpunkt der Kampagne zum Aids-Tag 1999 stehen die jungenMenschen. Denn aus den Statistiken von UNAIDS ergibt sich, dass Aids eine Krankheit der Jugendlichen ist. Mehr als die Hälfte der weltweit mit HIV Infizierten sind unter 25 Jahre alt. So unternehmen denn auch die Aids-Hilfen in Deutschland so manches, um Informationen über Aids und Safersex vor allem unter die Jungen zu bringen. Nötig ist das selbst in Deutschland immer noch. Die ersten, unsicheren Erfolge in der Therapie haben dem Virus schon wieder einiges an Schrecken genommen. Nach Angaben des AIDS-Zentrums in Berlin haben sich seit 1982 in Deutschland 60.000 Menschen infiziert. Von den über 18.000 akut erkrankten sind über 11.000 verstorben.

Wenn es um die Aufklärung von Jugendlichen geht, ist das Internet heute die erste Adresse. Auch die Organisationen der AIDS-Hilfe beginnen zu entdecken, dass man im Web nicht nur mit bunten Bildern und langatmigen Grundsatztraktaten aufwarten kann. Die interaktiven Möglichkeiten des Netzes leisten mehr. „Für so manchen erleichtert die Anonymität den ersten Kontakt zu einer Beratungsstelle. Das kann man ein bisschen auch mit der Suche nach Sexkontakten im Darkroom vergleichen“, weiß Harald Karl, der bei der AIDS-Hilfe Karlsruhe seit drei Monaten die Onlineberatung aufbaut und betreut. Es sei aber, sagt er, auch dabei immer das Ziel, die Ratsuchenden zu einem persönlichen Gespräch in der AIDS-Hilfe zu motivieren. „Gut 80 Prozent der menschlichen Kommunikation bestehen aus Körpersprache und Blickkontakten, und die hat man bei E-Mail oder im Chat nicht.“

Für Karl Lemmen, bei der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) für die Fortbildung von Beratern und Betreuern der regionalen AIDS-Hilfen zuständig, liegt der klare Vorteil der Onlineberatung in der Schnelligkeit. Aber die DAH ist skeptisch. Sie fühle sich der „nondirektiven-klientenzentrierten“ Beratung verpflichtet, durch die der Ratsuchende unterstützt werde, seine eigenen Antworten auf seine Probleme zu finden, sagt Lemmen. „Bei der Onlineberatung soll ich Antworten geben ohne eine Rückmeldung, ob sie auf die Situation des Ratsuchenden passen“, sinniert der Psychologe: „Bei stark konfliktbesetzten Themen und Fragen ist die Telefonberatung eindeutig überlegen.“

Sein Kollege Harald Karl, DAH-Praktiker vor Ort, hat weniger Bedenken. Auch der Onlineverkehr sei eine „Art der Beratung“, denn da „werden Informationen gezielt und persönlich weitergegeben“. Sehr professionell und ohne sozialpsychologische Zweifel nutzt das Projekt „Herzenslust“ der AIDS-Hilfe Nordrhein-Westfalen die interaktive Dimension des Netzes: „Via E-Mail können Termine in einem privaten Chat-Raum oder eine Live-Cam-Verbindung mit „Cu-SeeMe“ oder auch ein Net-Meeting für persönliche Beratungen vereinbart werden“, verkündet die Homepage, von der die für solche Sonderwünsche erforderlichen Programme heruntergeladen werden können.

Die Herzenslust-Aktivisten bieten sogar Aus- und Fortbildung für Onlineberater. Dieser Service fehlt im Angebot des Dachverbandes DAH. Auch darüber, wie viele der über 120 AIDS-Hilfen Onlineberatung anbieten, konnte der zuständige DAH-Mitarbeiter nichts sagen. „Das weiß sicher unsere EDV-Koordinatorin.“

Die Antwort zeigt, wie schwer sich deutsche Selbsthilfegruppen noch mit dem Internet tun. Niemals käme jemand auf die Idee, die Zuständigkeit für Telefonberatung an die Telefonzentrale zu delegieren. Auch Harald Karl weiß von Vorbehalten aus Kollegenkreisen: „Als das Beratungsangebot bereits online war, meinten einige, das sei zu elitär.“

Die AIDS-Hilfen und -Projekte, die sich auch im Internet engagieren, haben sich inzwischen zum Pool zusammengeschlossen, um ihre Erfahrungen besser nutzen zu können. Die Schwulenberatung in Berlin bietet schon seit Juli letzten Jahres Sprechstunden via Internet an. Im Rahmen der virtuellen Stadt das-berlin“ teilen sich psychosoziale Organisationen wie die Berliner AIDS-Hilfe, die Telefonseelsorge oder auch die Lesbenberatung an unterschiedlichen Tagen und zu verschiedenen Uhrzeiten den Beratungs-Chat in Form eines Warte- und Beratungszimmers. „Zu Beginn war unsere Onlineberatung nur auf das Thema Partydrogen und den damit verbundenen Lebensstil ausgerichtet“, erzählt Rolf Henning von der Berliner Schwulenberatung. „Inzwischen gehören alle schwulen Themen und Problemstellungen dazu, also Coming-out, Behinderung, Aids oder auch Sucht.“

Der Erfolg hat seinen Preis. Die Onlineberatung der Berliner könne man zwar auch „spontan besuchen“, meint Henning, aber besser sei es schon, vorher per E-Mail einen Termin zu vereinbaren. Das Internet werde meist von Ratsuchenden genutzt, die nicht zum Telefonhörer greifen oder eine Beratungsstelle persönlich aufsuchen wollen oder können. „Sehr häufig nutzen schwule Coming-out-Fälle aus der Provinz unser Angebot.“

Nur wer Bescheid weiß, kann verantwortungsbewusst handeln, meint das Sexualaufklärungsprojekt der AIDS-Hilfen Hessen und Nordrhein-Westfalen und bietet ungeschminkt Sexinformationen – A wie Arschloch bis Z wie Zweitdildo“ – online an. Die Seiten wurden mit jungen Schwulen gemeinsam erarbeitet, ein Pinboard lädt zum Austausch von Erfahrungen und Sextips ein. „Rein ins Vergnügen“ heißt ein ähnlich lustvolles Onlineangebot für junge Schwule. In dem nekkisch mit „RiV“ abgekürzten Sex-Führer geht es um „Männer, Männerliebe und Männersex – mit und ohne „Spielzeug“. Mit den „Toys“, wie sie im Szenejargon heißen, sind allerlei Lustspender wie Dildos, Klammern, Ketten oder Kerzen gemeint.

Aber auch die mit HIV Infizierten und akut Aidserkrankten sind online gegangen. Das bundesweite „Netzwerk plus“ sieht sich „in der Tradition der AktivistInnen, die von Anfang an gegen die Diskriminierung und für Selbstbestimmung gekämpft haben.“ Hier, aber besonders auf der Homepage der heterosexuellen Positiven, finden Interessierte umfangreiche Informationen und ein Bündel weiterführender Links. Und wer es noch genauer wissen will, ist beim „AIDSfinder“ gut bedient. Die Website listet akribisch einfach alles alles auf, vom Fachbuch bis zur Selbsthilfegruppe mit Internetanschluss.Michael Lenz

lenz.michael@gmx.net