Russland ist keine Demokratie“

■  Sergej Kowaljow, Duma-Abgeordneter und früherer Menschenrechtsbeauftragter der russischen Regierung kritisiert den Krieg Russlands gegen das tschetschenische Volk. Dem Westen wirft er vor, zu wenig Druck auf Moskau auszuüben

taz: 1996 traten Sie wegen des Krieges in Tschetschenien als Menschenrechtsbeauftragter der russischen Regierung zurück. In einem offenen Brief an Boris Jelzin schrieben Sie damals, im Lande herrsche Gesetzlosigkeit, immer häufiger werde Gewalt zur Lösung von Problemen eingesetzt. Ist das, was sich heute in Russland abspielt, eine Konsequenz dieser Entwicklungen?

Sergej Kowaljow: Diese Tendenzen setzen sich fort und haben noch an Stärke gewonnen. Es ist kein Zufall, dass unsere letzten drei Premierminister, Primakow, Stepaschin und Putin, alle vom KGB kommen. Doch diese Tendenz findet ihren Ausdruck noch auf eine andere Art, ich nenne das Rückkopplung. In der Gesellschaft macht sich gerade eine Nostalgie breit, die Sehnsucht nach einem mächtigen Staat. Diese Nostalgie manifestiert sich in Rufen nach Ordnung und dem Wunsch nach einer Rückkehr zu unserer ruhmreichen Vergangenheit. Die Journalisten und Politiker nehmen diese Stimmung auf und treten ihrerseits mit immer schärferen Äußerungen hervor, was sich wiederum auf die Gesellschaft auswirkt. Das erinnert an Studiotechniker, die am Verstärkungsregler drehen.

Im gleichen Brief hieß es: Wenn es in Russland eine Demokratie geben wird, dann nicht wegen, sondern trotz Jelzin. Wie charakterisieren Sie das heutige System?

Von Demokratie kann man nicht sprechen. Nehmen wir die Zensur. Formal gibt es sie nicht, doch faktisch kommt sie längst zum Einsatz, sowohl, was die Ereignisse in Tschetschenien angeht, als auch den politischen Prozess im allgemeinen. In den Zeitungen finden sich zwar verschiedene Standpunkte, doch das hat nichts mit engagiertem Journalismus zu tun. Die Politiker der unterschiedlichen Richtungen bewerfen sich mit Dreck und die Medien verbreiten das. Eine Zensur findet nicht statt, aber Unabhängigkeit gibt es auch nicht. Das hat nichts mehr mit Demokratie zu tun, wenn mit einem der bedeutendsten Grundrechte, wie der Freiheit des Wortes so umgegangen wird wie derzeit in Russland. Auch die Bekenntnisse zu einer offenen, transparenten Politik sind längst zu Worthülsen verkommen. Stattdessen haben wir es mit Kaderintrigen nach sowjetischen Muster zu tun. Ein Kabinett nach dem anderen wird ausgetauscht, dem Wähler wird nichts erklärt, ja man bemüht sich nicht einmal mehr, das zu maskieren. Es heißt immer nur, es gebe übergeordnete Interessen. Die Geheimniskrämerei kommt wieder. Nicht zufällig beginnt die Presse jetzt immer öfter von Staatsgeheimnissen zu sprechen und der Notwendigkeit, sie entsprechend diskret zu behandeln.

Ist der neue Krieg in Tschetschenien eine Wiederholung der Geschichte, oder sehen Sie eine neue Qualität?

Es ist eine Wiederholung der Geschichte, jedoch auf einem höheren Niveau. Russland hat aus dem letzten Krieg Lehren gezogen. Wie heißt es so schön: Der moderne Krieg ist zuerst ein Informationskrieg. Den gilt es zu gewinnen. Wie? Ganz einfach: Es wird nur eine Informationsquelle zugelassen, alles ist gut abgeschirmt gegen unabhängige Beobachter. Und die, die sich zu Wort melden, dürfen das nur unter der Aufsicht derer tun, die diese Informationen dann verbreiten. Diese perfekte Isolation ermöglicht es auch, jedes beliebige Mittel einzusetzen und als militärische Notwendigkeit zu verkaufen. Unsere Generäle laufen nicht mehr Gefahr, kontrolliert zu werden. Früher waren sie unter Rechtfertigungzwang. Jetzt werden Bilder gezeigt, einfach so, von Orten, die bombardiert werden, weil sich dort tschetschenische Kämpfer aufhalten sollen. Doch niemand nimmt daran Anstoß.

Dass fast alle Politiker den Krieg unterstützen, ist wegen der bevorstehenden Parlamentswahlen nicht erstaunlich. Doch auch die Intelligenz ist nicht zu hören. So fragt der Schriftsteller Anatoli Pristawkin in der Wochenzeitung Moskovskie Novosti: Wo ist der berühmte Sergej Kowaljow? Nun, wo ist er?

Anstatt solche Fragen zu stellen, hätte mich Pristawkin anrufen sollen, meine Moskauer Telefonnummer hat er ja. Dann hätte er auf seine Frage folgende Antwort erhalten: Ich äußere mich überall dort, wo es mir gelingt, den Mund aufzumachen. Nur leider kann ich mich kaum öffentlich äußern. Zwei Radiosender haben mich bis jetzt zu Wort kommen lassen. Aber veröffentlicht man meine Beiträge, wie damals, in allen politischen Lagern? Nein! Um etwas über die Position von Kowaljow zu erfahren, muss man schon die so genannte patriotische Presse lesen. Da gibt es jede Menge Beschimpfungen an die Adresse Kowaljows. Und die machen klar, dass sich seine Haltung zum Krieg in Tschetschenien nicht geändert hat.

Im Gegensatz zum Tschetschenien-Krieg 1994 bis 1996 steht die Gesellschaft dieses Mal geschlossen hinter Politikern und Militärs. Wie erklären Sie das?

Dafür gibt es viele Gründe, und einige sind durchaus berechtigt. So ist die Gesellschaft verunsichert durch die Kriminalität in Tschetschenien. Dazu gehören die illegalen Geschäfte und die Geiselnahmen. Auch die Einführung der Scharia als Rechtsordnung stößt auf Unverständnis. Wo finden Sie zivilisierte Menschen, die damit einverstanden sein können, wenn Menschen Hände und Füße abgehackt werden? Auch der Überfall auf Dagestan hat Angst ausgelöst. Am stärksten jedoch sind die Menschen durch die terroristischen Anschläge in den Städten verunsichert worden. Die Verantwortlichen spielen mit diesen Ängsten und benutzen sie, um Unzufriedenheit und Panik zu schüren. Da ist dann die Tatsache nicht mehr wichtig, dass eine tschetschenische Beteiligung an den terroristischen Anschlägen in Russland bis jetzt nicht nachgewiesen ist. Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, muss aber die Unschuldsvermutung gelten.

Beim OSZE-Gipfel in Istanbul haben sich die westlichen Staaten zumindest um kritische Worte an die Adresse Russlands wegen des Tschetschenien-Krieges bemüht. Reicht das?

Das reicht keinesfalls. In Istanbul wurde ein Kompromiss gefunden, der weit von den Vorstellungen des Westens entfernt ist. Doch die Fehler des Westens haben einen Ausgangspunkt: Die Gleichgültigkeit führender westlicher Politiker gegenüber dem ersten Krieg in Tschetschenien. Sie waren damals vor allem darum bemüht, die demokratische Reputation Jelzins aufrechtzuerhalten. Jetzt besinnen sie sich plötzlich eines Besseren, jedoch nur sehr vorsichtig. Auf Russland müsste viel energischer Druck ausgeübt werden, und der Westen muss seine Position klar vertreten. Aussagen wie „Der Kampf gegen den Terrorismus ist wichtig, aber die Methoden sind nicht adäquat – was soll das? Jedem ist doch klar, dass es überhaupt nicht um einen Kampf gegen Terroristen geht. Russland kämpft nicht gegen Terroristen, sondern gegen die Tschetschenen. Natürlich muss man gegen Terrorismus vorgehen, aber nicht indem man Bomben auf Marktplätze wirft. Politisch nützlicher wäre es gewesen, wenn in Istanbul kein Dokument unterzeichnet worden wäre. Dann hätte das Treffen als Misserfolg geendet. Aber diese Variante ist nicht einmal in Erwägung gezogen worden.

Interview: Barbara Oertel