Teufel ATP: Boris' Bälle in Gefahr

Die ATP will ihre Tennistour auch auf Problemmärkten wie Deutschland und USA wieder attraktiver machen  ■   Aus Hannover Matti Lieske

Andre Agassi wohnt in Las Vegas, Pete Sampras inzwischen meist in Los Angeles, Pat Rafter surft auf den Bermudas und Thomas Enqvist residiert in Monaco. Nicolas Kiefer wohnt in Hannover und das ist irgendwie passend. „Als Tennishochburg ausgedient“, hämt die Braunschweiger Zeitung in gut nachbarschaftlicher Verbundenheit angesichts der Tatsache, dass die ATP-Weltmeisterschaft zum letzten Mal in der niedersächsischen Landeshauptstadt stattfindet und damit auch zum letzten Mal in Deutschland, wo sie zehn Jahre lang – erst in Frankfurt dann vier Jahre in Hannover – ihren festen Standort hatte. Die Option für ein weiteres, das Expo-Jahr ließ die Betreibergesellschaft tunlichst ungenutzt, das allerdings war vor zwei Jahren, als niemand absehen konnte, dass ein Quasi-Sohn der Stadt in das Feld der exquisitesten Tennisspieler vorstoßen würde.

Aber auch mit Kiefer wäre die Entscheidung möglicherweise nicht anders ausgefallen. Seine Auftritte vor einem heimischen Publikum, das sich redlich Mühe gab, Enthusiasmus zu heucheln, zeigten zwar, dass der 22-Jährige das Zeug hat, zukünftig eine gewichtige Rolle im Spitzentennis zu spielen, demonstrierten aber auch, wie weit er davon entfernt ist, jene Begeisterung zu entfachen, die Boris Becker bereits hervorruft, wenn er nur in seiner Loge Platz nimmt. Bezeichnend, dass die höchsten Einschaltquoten der Vorrunde nicht der Lokalmatador, sondern Andre Agassi bekam.

Die ATP-WM geht also auf Tour, zunächst nach Lissabon, im Jahr darauf nach São Paulo. „Diese Veranstaltung gehört in die USA“, findet zwar Pete Sampras, doch damit steht er weitgehend allein. Während sich das Tennis immer mehr globalisiert und die Begeisterung in Südamerika oder Asien gewaltig wächst, sind die traditionellen Märkte für den weißen Sport enger geworden. In den USA interessieren nur die Grand Slams und das Duell Agassi-Sampras, aber auch das konnte keine Zeitung veranlassen, extra einen Korrespondenten ins kalte Hannover zu entsenden. Immerhin überträgt der Pay-TV-Sender ESPN live, aber der zeigt auch Bowling und Soccer. Was wird, wenn sich Agassi (29) und Sampras (28) alsbald zur Ruhe setzen, malt sich bei der ATP lieber niemand aus.

Während die ATP mit ihrer WM verstärkt auf die dritte Tenniswelt setzt, wo es viel Begeisterung, aber wenig zu verdienen gibt, versucht sie verzweifelt, ihre Tour dort wieder attraktiver zu machen, wo es viel zu verdienen gibt, aber wenig Begeisterung: in Europa und den USA. Die neue Berechnung der Weltrangliste ab 2000 soll für mehr Klarheit und mehr Engagement der Spitzenspieler sorgen, die Neustrukturierung der Turnierserie für mehr Spannung. Die Qualität des Produkts Tennis muss steigen, um Überleben und Lukrativität zu sichern. Statt der Vielfalt der Turniere, zu denen die Superstars oft nur anreisen, um fette Startgelder zu kassieren, gibt es künftig 18 Veranstaltungen, die für das Ranking zählen: Die vier Grand Slams, die neun Turniere der Super-9-Serie, bei denen Teilnahme Pflicht ist, und die fünf besten übrigen Resultate des jeweiligen Spielers. Da bleibt nur noch wenig Zeit für einträgliche Abstecher in die Provinz und es bleiben wenige Topleute als Zugnummern für die kleinen Turniere, von denen etliche eingehen werden – was im Sinne der ATP ist, deren Devise Konzentration der Kräfte, mehr Duelle der Superstars lautet.

Zu den gefährdeten Spezies gehören auch Turniere wie jene in München, Halle oder am Stuttgarter Weissenhof. Zwar bleiben nach Wegfall von ATP-WM und Münchner Grand-Slam-Cup mit Hamburg und Stuttgart zwei Super-9-Turniere, das in Stuttgart gerüchteweise aber nur, weil sich weltweit kein Bewerber für eine Übernahme fand. Ein Indiz dafür, welch schwere Aufgabe die Agentur ISL mit der Vermarktung der neuen ATP-Tour übernommen hat. Gestern verkaufte die ISL die TV-Rechte für die beiden nächsten WM-Auflagen und das Männerturnier der Super-9-Serie an DSF und Premiere World. Gerade mal zehn Millionen Dollar müssen die Kirch-Sender für zwei Jahre bezahlen. Zusätzlich ist die zunehmende Verbannung des Tennis ins deutsche Pay-TV nicht gerade geeignet, die Begeisterung für den Sport hierzulande neu anzufachen. Es scheint, dass nicht nur Hannover, sondern ganz Deutschland als Tennishochburg erst einmal ausgedient hat.

Daran wird auch die neue Berechnung der Weltrangliste kaum etwas ändern. Alle Spieler beginnen das Jahr mit null Punkten, wer das erste Turnier gewinnt, ist die Nummer eins. 1999 wäre das Rainer Schüttler gewesen, der in Doha gewann. Der Weltranglistenerste ist nicht mehr der beste Spieler der letzten zwölf Monate, sondern eher eine Art Tabellenführer, der wöchentlich wechseln kann. Die wahre Nummer eins steht erst am Jahresende fest. „Wenn Manchester United an der Spitze liegt“, erläutert Jim Courier, „heißt das ja auch nicht, dass sie Meister sind.“ Vermieden werden sollen Kuriositäten wie in diesem Jahr: Dass Pete Sampras plötzlich vorn stand, obwohl er drei Monate nicht gespielt hatte, oder dass Jewgeni Kafelnikow die Nummer eins wurde, nachdem er sechs Erstrunden-Niederlagen in Folge kassierte.

Abgesehen von der Regelung, dass ein Akteur, der an einem Super-9-Turnier nicht teilnimmt, null Punkte erhält und zurückfällt, auch wenn er verletzt war, findet das neue System allgemeinen Beifall bei den Spielern. Es ist wichtig, dass es jedes Mal, wenn du spielst, auch zählt“, sagt Andre Agassi, der in manchen Phasen seiner Karriere selbst zu den Abzockern gerechnet wurde. „Die besten Spieler im gleichen Turnier zu haben, ist ein Schritt in die richtige Richtung“, pflichtet Sampras bei. Er weiß aber auch, dass die Umstrukturierung nur funktionieren kann, wenn es Tennisprofis gibt, die das entsprechende Spektakel liefern: „Was sich verkauft, ist letztendlich das Spiel.“ Und selbst in Hannover ist Sampras–Agassi allemal der größere Knüller als Kiefer–Kafelnikow.