Der Friedhof der Namenlosen

Der Wiener Friedhof für Selbstmörder und unidentifizierte Leichen ist der Donau gewidmet. Er beherbergt menschliches Strandgut der Jahre 1854 bis 1939   ■  Von Monika Schmittner

In der Vielvölkerstadt Wien wird der Tod nicht in derselben Weise verdrängt, wie es in westlichen Kulturen sonst meist der Fall ist

Der eigenwillige, fast vertraute Umgang der Wiener mit dem Tod ist legendär und wird durch Kabarettisten wie Georg Kreisler („Der Tod, das muss a Wiener sein“) oder Liedermacher wie Wolfgang Ambros („Es lebe der Zentralfriedhof“) lustvoll gepflegt. Beim Heurigen besingen die Einheimischen launig-melancholisch Gevadder Tod, und auf dem Friedhof – so wird den Wienern nachgesagt – schwärmen sie von der „scheenen Leich“. Es scheint, dass der Tod in der Vielvölkerstadt nicht so verdrängt wird wie sonst in westlichen Kulturen üblich. Dort werden in aller Regel Rituale praktiziert, die die Todesangst besänftigen sollen, während man den Tod in Wien feiert, weil er halt zum Leben dazugehört. Eine regelrechte Friedhofskultur offenbart das fast sinnliche Vergnügen an der eigenen Vergänglichkeit und zeigt, dass der Tod wahrscheinlich nirgendwo besser aufgehoben ist als in Wien.

Wie großzügig man in Wien mit dem Tod umgeht, bezeugt wie kein anderer der zahlreichen Friedhöfe der Friedhof der Namenlosen, ein lohnenswertes Ziel am Rande der Stadt. Er soll weltweit der einzige Totenacker sein, der den Opfern eines Flusses gewidmet ist. Der Friedhof der Namenlosen liegt im 11. Bezirk, an den Donauauen im Hafengebiet Albern. Das stimmungsvolle kleine Gräberfeld ist die letzte Ruhestätte für angeschwemmte Unfallopfer und SelbstmörderInnen. Beim Stromkilometer 1.918,3, dort, wo der Donaukanal in die Donau mündet, war ihre letzte Reise zu Ende. Wasserstrudel fingen an dieser Stelle zwischen 1854 und 1939 neben morschem Treibholz fast 600 Wasserleichen ein.

In den Alberner Hafen verirren sich nur wenige Touristen. Zwischen mächtigen Getreidespeichern, Silos und alten Lagerhallen rangieren geräuschvoll Gabelstapler und beladen Trucks und Speditionscontainer. An der Kehrtwende des Geländes, der Hafeneinfahrt, erblickt man auf einer kleinen Anhöhe in eigentümlicher Beschaulichkeit ein rundes Kirchlein: die Auferstehungskapelle. Sie wurde errichtet zur Erinnerung an die zwischen 1933 und 1935 durchgeführte Verstärkung und Erhöhung der Hochwasserdämme zwischen Donau und Donaukanal, zum Schutz für Wien und das Marchfeld. Unterhalb der Dammkapelle, an den alten Hafenbahngleisen, befindet sich der ursprüngliche, 1854 angelegte Friedhof der Namenlosen. Heute weist nur noch eine Gedenktafel auf die 478 namenlosen Toten hin, die die Donau an dieser Stelle ausgespuckt hat. Was lag näher, als die Schwemmstelle gleich als Friedhof anzulegen. Doch immer wieder wurde er überflutet; auf diese Weise holte sich der Strom einen Teil seiner Toten zurück. Im Jahre 1900 wurde die alte Begräbnisstätte aufgelassen.

Jenseits des Schutzdammes entstand der neue Friedhof mit den Gräbern jener 102 Menschenleichen, die man in den ersten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts aus der viel besungenen schönen blauen Donau geborgen hatte. Früher waren es mehr als heute, seit der Hafenregulierung gibt der Strom an dieser Stelle seine Toten nicht mehr so einfach preis. Die üppig bepflanzten, von Friedhofswärter Josef Fuchs (junior) in Familientradition liebevoll gepflegten Grabstätten mit ihren schmiedeeisernen schwarz lackierten Kruzifixen sind ein Memento mori all jener, denen der Fluss zum Verhängnis wurde.

Ein in Metall gemeißeltes Gedicht von Graf Wickenburg gedenkt dieser Toten: „Alle, die sich hier gesellen / Trieb Verzweiflung in der Wellen kalten Schoß / Drum die Kreuze, die hier ragen / Wie das Kreuz, das sie getragen: Namenlo...“ Doch nicht alle hier Bestatteten sind namenlos. Manche Kreuzinschriften weisen auf den Umstand hin, der zum Tod der Betroffenen geführt hat. „Karl Seel, ertrunken beim Bau des Hafens 1939“ ist da zu lesen oder „Wilhelm Töhn, ertrunken durch fremde Hand am 1. Juni 1904 im elften Lebensjahr“.

Die meisten Angeschwemmten waren jedoch Selbstmörder/innen, die als letzten Ausweg aus ihrem persönlichen Schicksal den nassen Tod gesucht haben. Sie sollten von Kirche und Gesellschaft zu Namenlosen gemacht werden, indem man ihnen eine ehrenhafte Bestattung im Familiengrab versagte. In der saftigen Donauer Aulandschaft fanden sie die letzte Ruhe: Bäcker- und Maurergesellen, ein Drechslermeister, ein Friseur, ein Gastwirt, ein anonymer „Sepperl“ – und vor allem junge Frauen. Josef „Pepi“ Fuchs jun., Jahrgang 1937, kennt viele Geschichten der Namenlosen von seinem Vater, und er schwört Stein und Bein, dass sie alle stimmen. Etwa die von der Frau Gettler, die 1927 in der Donau unter ungeklärten Umständen ertrunken ist und auf dem Friedhof der Namenlosen beerdigt wurde. Sechs Jahre später fand Josef Fuchs (senior) ihren Sohn Oskar Gettler. Er hatte sich auf dem Grabe seiner Mutter erschossen und wurde dort auch beigesetzt. Oder die Geschichte von dem jungen Mann, der sich erhängt hatte und von Josef Fuchs sen. abgeschnitten werden sollte. Noch in der Nacht bat er einen Bekannten, ihm mit seinem Schubkarren behilflich zu sein. Dieser beugte sich über die Leiche – und fiel in Ohnmacht: Es war sein eigener Sohn.

64 Jahre kümmerte sich Josef Fuchs sen. (1906 bis 1996) um den Friedhof der Namenlosen. Ohne seinen Einsatz gäbe es diesen Ort nicht mehr. Der erste Kontakt mit namenlosen Toten hatte ihn geprägt. Im Alter von 14 Jahren fand er in einem durchweichten Schuhkarton in einer Pfütze liegend ein Neugeborenes, das jüngste Mitglied der Totengemeinschaft. Er beerdigte den Säugling und gab ihm den Namen „Sepperl“, um nicht namenlos in die Ewigkeit einzugehen. Eine Gedenktafel an der Auferstehungskapelle erinnert an den ehrenamtlichen Friedhofsgärtner, der bis 1939 alle Wasserleichen selbst begraben hat. Die Stadt Wien ehrte ihn mit dem Verdienstabzeichen. Jetzt betreut sein gleichnamiger Sohn den stillgelegten Totenacker, zündet täglich eine Kerze in der Kapelle an und sorgt dafür, dass das Unkraut die Gräber nicht überwuchert. Der Wiener und der Tod – eine alte Liebe, die nicht rostet.

Jedes Jahr, am ersten Sonntag nach Allerheiligen, bauen Mitglieder des Fischereiverbandes der Sektion Albern ein Floß und schmücken es mit Kränzen und brennenden Kerzen. Begleitet von einer Musikkapelle, zieht die Prozession zum Ufer der Donau und übergibt das Floß den Fluten – zum Gedenken an all die namenlosen Opfer.

Nach so viel Tod drängt es zurück ins Leben: Unweit des Gräberfeldes bietet das Gasthaus „Zum Friedhof der Namenlosen“ herzhafte Wiener Hausmannskost. An der Frontseite des beliebten Speiselokals fällt der Blick auf eine makaber nachempfundene Wasserleiche. Aus dem schaurig grünen Gesicht starren überdimensionierte rote Augen, und aus dem zerfransten Mund quillt eine aufgedunsene Zunge. In Wien hat der Tod viele Facetten – wienerische halt.

Weitere Informationen: Friedhof der Namenlosen, Alberner Hafen, jederzeit zu besichtigen. Öffentliche Verkehrsmittel: Bus 72 A bis Münnichplatz, Linie 6 A bis Alberner Hafen. Gasthaus „Zum Friedhof der Namenslosen“, Albern 54, Tel. 769 39 71. Täglich geöffnet außer Donnerstag von 8.30 bis 20 Uhr.