Geile Bücher für die Stunden danach
: Modernes Lesen

Neue Bücher kurz besprochen  ■ von Dirk Knipphals

Normale Hitler-Anhänger

Aus gutem Grund wählen viele Autoren, die über die NS-Zeit schreiben, Außenseiterperspektiven. Diesem Thema kommt man literarisch wohl nur bei, indem man es entschlossen von der Seite angeht. Hans Jürgen Massaquoi hat die Außenseiterposition nicht gewählt. Er wurde in sie hinein geboren, 1926 in Hamburg als Kind einer deutschen Krankenschwester und des Sohnes des damaligen liberianischen Konsuls. Sein Vater muss, auch wenn der Autor das dezent vernebelt, das gewesen sein, was man einen Hallodri nennt. Und so lebt Massaquoi allein mit seiner Mutter als schwarzer Deutscher bis 1948, also die ganze Nazizeit hindurch, in Hamburg.

Es mag noch so platt klingen: Aber schon die Tatsache, dass es einen solchen Fall überhaupt gegeben hat, verblüfft einen ja. Noch etwas anderes ist viel verblüffender: Massaquoi kann nämlich wirklich frei von seiner Kindheit und Jugend als Schwarzer in Nazideutschland erzählen, ohne Ressentiments, Ausflüchte oder Verstellungen. Mit großer Freimütigkeit berichtet er, wie er sich als Siebenjähriger von seiner Tagesmutter in kindlicher Faszination ein Hakenkreuz auf seinen Pullover nähen ließ; seine leibliche Mutter – vor der man im Verlauf der Lektüre sowieso einigen Respekt entwickelt – verbot es ihm allerdings zu tragen. Dass er nicht in die HJ eintreten durfte, wird von Massaquoi als das beschrieben, was es für den damaligen Heranwachsenden auch wirklich war: als eine furchtbare Kränkung.

Der kleine Hans Jürgen M. wollte das sein, als was er sich fühlte und was viele seiner Mitschüler auch waren: ganz normale Hitler-Anhänger. Der erwachsene Erzähler Hans J. Massaquoi sieht keinen Anlass, eine große Lebensbeichte draus zu machen; er berichtet es einfach. So wie er im weiteren Verlauf des Buches von dem berichtet, was ihn eines Besseren belehrte, von den Repressionen, den Judenverfolgungen und den Kriegsgefangenen mit den leeren Blicken. 1950 ging Massaquoi in die USA, wo er Chefredakteur der großen afroamerikanischen Zeitschrift Ebony wurde und ein erfolgreicher Amerikaner; dem Band beigegebene Fotos zeigen ihn zusammen mit Martin Luther King, Malcolm X, Muhammad Ali und Jimmi Carter. Einer, der den Nazis wirklich entkommen ist.

„Neger, Neger, Schornsteinfeger“ (der dämliche Titel geht auf einen Spottgesang Hamburger Straßenjungs zurück) ist keine große Literatur. Das Buch wartet auch nicht mit differenzierten Analysen auf. Hier will niemand Zeugnis ablegen bis zum Letzten, und auf keiner Seite hat man den Eindruck, dass sich der Autor ein Thema von der Seele schreiben musste, das ihn seit Jahrzehnten umtrieb. Hier hat jemand, der etwas Besonderes erlebt hat, das Beste, was er tun konnte, getan: Er hat es aufgeschrieben – wenn auch aus über fünfzigjährigem Abstand und mit der Altersmildheit des Überlebenden.

Hans J. Massaquoi: „Neger, Neger, Schornsteinfeger“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Fretz & Wasmuth, Bern/München 1999. 416 Seiten, 39,90 DM

Geschmierte Erzählung

Oi, kann der schreiben! Fast hätte Paulus Hochgatterer unsereinem sogar aufbinden können, dass sozial auffällige Jugendliche gerne mal das Album „Swordfishtrombones“ von Tom Waits auflegen. In Wirklichkeit kann das natürlich nicht sein, schließlich ist Tom Waits nicht gerade angesagt. Andererseits geht es in der Literatur bekanntlich nicht nur um die Wirklichkeit, und auf alle Fälle ist Hochgatterers vierter Roman „Caretta, Caretta“ atmosphärisch so dicht gewebt, dass man als Leser geneigt ist, ihm beinahe alles abzunehmen. Nur gegen Schluss treibt es der Autor, ohne hier Einzelheiten verraten zu wollen, doch zu weit. Aber da hat man sein Können so sehr schätzen gelernt, dass es den positiven Gesamteindruck kaum schmälert.

Dabei hat sich der Wiener Schriftsteller, nebenbei als Kinderpsychiater tätig, ein Thema ausgesucht, das allzu leicht in den Kitsch abkippen könnte und in den Sozialkitsch sowieso. In der Ich-Perspektive erzählt er aus dem Leben des 15-jährigen Jugendlichen Dominik, der von seinem Stiefvater so übel misshandelt wurde, dass er verhaltensauffällig wurde. Schon hier ist Kitschgefahr im Verzug, und es kommt noch ärger: Dominik ist nämlich, obwohl er klaut, lügt und seinen Körper verkauft, eigentlich ein guter Kerl mit funktionierenden Gerechtigkeitsinstinkten und sogar einem großen Herz für kranke, alte Männer. Um so eine Figur nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, bedarf es schon einiger Erzählkunst. Paulus Hochgatterer gelingt sogar noch mehr: Über weite Strecken erscheint einem dieser Dominik, allen Ungereimtheiten zum Trotz, als überaus glaubwürdig.

Eine geschmierte Erzählmaschinerie läuft hier ab, und man nimmt es in keinster Weise übel. Rühmenswert ist vor allem Hochgatterers Gehör für die Sätze, welche er seinem jugendlichen Ich-Erzähler zumuten kann und welche eben nicht. Und dann enthält das Buch, Jugendliche sind manchmal so, noch viele, wenn auch altkluge, so doch lohnende Sinnsprüche. An einer Stelle heißt es: „Manchmal liegt ganz nah bei nett etwas, für das man nicht gleich die passenden Vokabeln findet.“ Das drückt ziemlich gut aus, dass man dieses Buch nett finden kann und da eben doch etwas mehr ist, das den Unterschied zum wirklich guten Buch ausmacht. Und zum siebten Lied von „Swordfishtrombones“ (“In The Neighbourhood“) findet sich der Satz: „Manchmal im Leben passt nur Kitsch.“ Das stimmt.

Paulus Hochgatterer: „Caretta, Caretta“. Deuticke Verlag, Wien/München 1999. 220 Seiten, 34 DM

Deutsche Offiziere

Über den deutschen Sonderweg ist schon viel geschrieben worden. Eine gerade erschienene Aufsatzsammlung illustriert ihn sehr anschaulich, indem sie sich einem ganz bestimmten Gegenstand widmet: den deutschen Offizieren. Die waren jahrhundertelang etwas Besonderes oder haben sich zumindest so gefühlt: des Kaisers eigene Männer. Während man hier liest, zu welchem Sonderbewusstsein diese Kriegerkaste fähig war, kann man nur darüber staunen (und dankbar sein), welche Zivilisierungsleistung im Deutschland der zweiten Jahrhunderthälfte gelungen ist. Die Tat- und „Willensmenschen“, so der Titel des Bandes, zu entmilitarisieren und, wenn nötig, der Lächerlichkeit preiszugeben, das gehörte wohl in der Tat zu den Gründungsvoraussetzungen unserer heutigen Zivilgesellschaft.

Ein gutes Dutzend Historiker, Kulturwissenschaftler und Soziologen, viele aus dem Umfeld des Hamburger Instituts für Sozialforschung, beleuchten in dem Band den Typus des deutschen Offiziers von allen Seiten. Man erfährt unter anderem, wie ein guter Offizierstod vonstatten zu gehen hat (auf dem Schlachtfeld, schweigend), welche Aufstiegschancen Juden im deutschen Offizierskorps hatten (nicht so gute) und was Offiziere und andere Ehrenmänner tun mussten, wenn sie sich im Bordell begegneten: das Monokel aus dem Augen fallen lassen; das galt als Zeichen dafür, sich gar nicht gesehen zu haben, und die jeweilige Ehre war gerettet.

Natürlich sind die Usancen des Offizierskorps, dieser neben den Intellektuellen zweiten Säule des deutschen Sonderwegs, längst von historischer Patina überwachsen. Aber viele Beiträge zeigen eben, wie bedeutsam das Offiziersdenken für die deutsche Bewusstseinslage aus unbedingtem Tat-Ethos und heroischer Selbstverleugnung war. Der Mitherausgeberin Karin Wieland gelingt es gar, eine so mondäne Gestalt wie Marlene Dietrich aus dem Geiste der Kriegerkaste zu entwickeln: Marlene war eine Offizierstochter und ist es, wie der Beitrag einleuchtend erläutert, ihr ganzes Leben lang geblieben.

Apropos die Frauen. Die Soziologin Gudrun Schwarz beschäftigt sich mit den SS-Offizieren und ihren Ehefrauen und kommt zu dem Schluss, dass die SS eben nicht als Männerbund, sondern als „Sippengemeinschaft“ konzipiert war. Die Offiziersfrauen waren in die Gemeinschaft der NS-Eliteorganisation genauso eingebunden wie ihre Männer. Bei der Partnerwahl ihres Führungspersonals ließ die SS große Sorgfalt walten: Um ins „Sippenbuch“ der SS eingetragen zu werden, mussten SS-Führer an die 200 Papiere vorlegen, Geburtsurkunden und Trauscheine bis hin zu den Ur-Ur-Urgroßeltern. Eine, wenn es nicht so traurig wäre, fast schon lustige Vorstellung: Das deutsche Elitebewusstsein hatte eben auch für die Elite selbst unbequeme bürokratische Auswirkungen.

Ursula Breymayer u.a. (Hg.): „Willensmenschen. Über deutsche Offiziere“. Fischer-Verlag, Frankfurt a.M. 1999. 240 Seiten, 28,90 DM

Weibliche Obhut

Und der Preis für den schönsten Buchtitel geht an: Javier Marias. Seine Titelfindungen, bekanntlich oft Shakespeare-Stücken entlehnt, sind ja meistens eigen. Nun ist ein kleines Bändchen mit neun Erzählungen des spanischen Romanciers herausgekommen, und es heißt: „Während die Frauen schlafen“. Das ist schon sehr suggestiv. Wobei dieses kleine, schöne Staunen, das der Titel auslöst, wohl kaum am Inhalt liegt. Während die Frauen schlafen, saufen sich die Männer die Hucke voll. Oder noch banaler: Während die Frauen schlafen, kloppen die Männer Skat. Mit solchen Wendungen ließe sich der Nebensatz fortsetzen. Aber man tut es eben nicht. Vielmehr schwingt sofort Melancholisches mit und, ja doch, männliche Verlorenheit. Und ganz leise auch die Ankündigung dessen, dass die Männer, aus weiblicher Obhut entlassen, sich in ihre eigenen Obsessionen flüchten können.

Genau darum geht es in der Titelgeschichte. Sie beginnt mit einer banalen Szene am Strand; man liegt im Sand, ist faul und beobachtet die anderen Paare. Und sie endet in der absonderlichen Unterhaltung zweier Männer nachts am Swimmingpool – während ihre Frauen in den Hotelzimmern schlafen. Am Schluss weiß man nicht, ob der eine Mann zum Mörder werden wird, ob er vielleicht sogar schon zum Mörder geworden ist oder ob er sich nur ein bisschen aufzuspielen gedenkt. Auf jeden Fall ist es ein hübsches erzählerisches Kabinettstückchen.

Wenn er statische Situationen zwischen zwei, drei Figuren beschreibt (eine Person liegt im Bett, eine andere steht auf dem Balkon und raucht, während sie einer dritten Person zusieht, die über die Straße geht), ist Marias ja auch in seinen Romanen am besten. Nur dass er zu, na ja, gelegentlich ermüdenden metaphysischen Spekulationen neigt. Dazu hat er bei zehn, zwanzig Seiten glücklicherweise nicht den Platz.

Javier Marias: „Während die Frauen schlafen“. Aus dem Spanischen von Renata Zuniga. Wagenbach Verlag, Berlin 1999. 160 Seiten, 26,80 DM