Die übrig gebliebene Geburtstagstorte

■  Unverbrauchte Quellen und Zeitzeugen: Thomas Kutschker umrundet in seinem dokumentarischen Essay „Die verschwundene Grenze“ das ehemalige Westberlin im Jahre 10 nach dem Mauerfall (0.25 Uhr, ZDF)

Kosmonauten wie Astronauten konnten die illuminierte Staatsgrenze einst sogar vom Orbit aus erkennen, so geht jedenfalls die Legende. Heute fällt es selbst alteingesessenen Berlinern schwer, den genauen Grenzverlauf zu rekonstruieren. In auffälliger Harmonie war man nach dem November 1989 in Ost wie West daran gegangen, die Demarkationslinie möglichst rasch aus dem Stadtbild zu tilgen, sie zum bloßen Verhandlungsgegenstand der Geschichtsbücher zu machen. Mit Sicherheit werden sich spätere Generationen über diese Eilfertigkeit wundern – einzelne Denkmale können schließlich kaum vermitteln, wie es möglich sein konnte, einen urbanen Organismus über Jahrzehnte hinweg zweizuteilen.

Wie dem auch sei: Diese Spurenverwischung war politisch gewollt, und sie ist längst irreversibel. Es ist nun an den Medien, Erinnerungsarbeit zu leisten – was anlässlich der jüngsten Jubiläen ja auch ausführlich zelebriert wurde. Wie aber dem vorhandenen historischen Material, das trotz seiner ppigkeit doch endlich ist, neue Facetten abgewinnen?

Thomas Kutschker wählt in seinem für „Das kleine Fernsehspiel“ produzierten Essay eine mehrschichtige Montageform. Neben historischen Dokumenten (dankenswerterweise bemüht er sich hier um unverbrauchte Quellen) stehen aktuelle, visuell verfremdete Aufnahmen aus dem einstigen Todesstreifen. Diese schlagen quasi einen Zirkel um die „Inselstadt“ Westberlin. An wichtigen topographischen Punkten (Spandau, Märkisches Viertel, Brunnenstraße, Steinstücken usw.) hält die Kamera in ihrer Bewegung inne und widmet sich der wesentlichen Ebene des Films: Zeitzeugen von beiden Seiten der Mauer reflektieren aus ihrer Erinnerung, in welchem Maße Mauerbau, Teilung und Wiedervereinigung in ihren ganz persönlichen Alltag eingegriffen haben.

Da gibt es den typischen, aus dem Altbundesgebiet zugezogenen Wehrdienstverweigerer und die Ostfrau mit der üblichen Ausreise-Odyssee. Da sind die ganz gewöhnlichen Kleinbürger, denen der 13. August 1961 hauptsächlich wegen der übrig gebliebenen Geburtstagstorte in Erinnerung ist (die Hälfte der Verwandtschaft konnte wegen Ulbrichts Bauarbeiten nicht anreisen). Zu Wort kommen auch „Angehörige der bewaffneten Organe“, die erstaunlich entspannt und im ungebrochenen Brustton der Überzeugung über ihre damaligen Dienstpflichten erzählen.

Angenehm ist diese Methode, auf Prominenz und (offizielle) Kompetenz bei der Auswahl der Gesprächspartner zu verzichten sowie sich jedes Kommentars zu enthalten. „Oral History“ kommt hier (auch in ihrer ganzen Banalität) wirksam zum Tragen. Nur in formaler Hinsicht macht es sich Kutschker ein wenig leicht: Allzu großzügig bedient er sich bei dem von Jürgen Böttcher entwickelten Verfahren, diese Interviews auf Mauern und Gegenstände zu projizieren. Und dem letzten Drittel seines Films mangelt es leider an einem inszenatorischen Kick.

Claus Löser