Tochter Graf und Diener Jean: keine Zukunft

■ Das Bremer Theater serviert noch ein scheinbar überholtes Thema: Antonio Bibalos Kammeroper nach August Strindbergs Trauerspiel „Fräulein Julie“ glänzt im Concordia (leider nur) mit eindrucksvollen Momenten

Nach „Yerma“, der Frau, die ihren Mann umbringt, weil sie von ihm keine Kinder kriegen kann, setzt das Bremer Theater nun erneut ein zumindest in Zentraleuropa überholtes Thema auf den Spielplan. Statt in Lorcas Hitze Andalusiens entführt es in die gesellschaftliche Strenge des hohen Nordens: Es ist August Strindbergs Trauerspiel von der Grafentochter „Fräulein Julie“, die in der Mittsommernacht den Diener Jean verführt und nach seinen Zynismen den Tod wählt. Beide Themen könnten trotz ihrer gesellschaftlichen Überholtheit doch als Metaphern für die Sehnsucht nach einem eigenbestimmten Leben verstanden werden – immerhin waren große Dichter am Werk.

Die Inszenierung von Rainer Holzapfel im Concordia beginnt in jeder Hinsicht viel versprechend. Schon für die Bühne hat sich Detlev Thomas etwas einfallen lassen: die totale Aufhebung der traditionellen Bühne – radikaler noch als in vielen anderen Versuchen im Concordia. Die Raumbühne ist mit einem Holzboden mit tiefer liegenden Gängen versehen. Darum herum sitzt das Publikum. Damit ist konzeptionell schon viel erreicht: Die SpielerInnen müssen Gräben überspringen, sie verlaufen sich in dem Labyrinth, sie markieren permanent oben und unten, sie laufen hinter dem Publikum.

Der Regisseur baut von vornherein tragfähige Verfremdungseffekte ein, die ein rein realistisches Spiel verbieten: Die drei Protago-nistInnen (neben Julie und Jean noch dessen Verlobte Kristine) erzählen praktisch ihre Geschichte, wenden sich immer wieder ans Publikum. Der Dirigent prangt via Videoprojektion überlebensgroß an einer Seitenwand, und die MusikerInnen werden so auch dramaturgisch mit einbezogen.

Trotzdem haut das Ganze nicht hin, und es ist kein Zufall, dass bis jetzt nicht von der Musik die Rede war, denn mit „Fräulein Julie“ handelt es sich nicht um das 1888 entstandene Trauerspiel von Strindberg, sondern um eine Oper, die gleichnamige nämlich von Anton Bibalo, einem Italiener, der Norwegen zu seiner Wahlheimat erkoren hat. Das Werk ist 1975 für große Oper geschrieben, später für kleineres Ensemble bearbeitet und nun für die Bremer Aufführung noch einmal reduziert auf Streichquartett, Schlagzeug und Klavier. Bibalo mag Tonalität, mag direkte, tautologische Effekte, mag Melodien und mag expressiven Parlandogesang – irgendwas zwischen Rezitativ und Arie. Diese Art von durchaus gekonnter, aber letztlich doch nur musikalischer Untermalung wurde bestens und umsichtig wiedergegeben vom neuen ersten Kapellmeister Stefan Klingele und den leider im Programmheft nicht genannten MusikerInnen.

Die Regiekonzeption geht aber trotz vieler eindrucksvoller Momente letztendlich nicht auf. Weil Julies Problem kein archaisches, sondern ein gesellschaftlich vermitteltes ist. Immer weniger versteht man ihr „Retten Sie meine Ehre“, noch weniger „Töten Sie mich“ – eine Szene, die im Publikum stattfindet. Und am Ende fragt sie das Publikum: „Was würden Sie denn tun?“ Da versteht man gar nicht, was sie denn eigentlich hat.

Daniela Sindram als Julie – keine falsche Prognose, dass hier eine große Singschauspielerin heranwächst – singt hervorragend, zeigt viel an Zwischentönen, ist aber vom unhistorischen Ansatz her eine viel zu selbstbewusste und moderne Frau, um ihr die Verzweiflung der schwedischen Grafentochter abnehmen zu können. Als Jean ein neues Gesicht im Bremer Ensemble: Clemens C. Löschmann, ein ausdrucksstarker Charaktertenor und ein ebenso brillanter Schauspieler. Anna Elisabeth Gabler als spießige, aber ungemein temperamentvolle Kristine setzte als Verlobte Jeans ebenso viel versprechende Azente.

Ein sehr gut gemachtes, unterhaltsames Kammerspiel, aber mitnichten eine zeitgenössische Oper. Herzlicher Beifall.

Ute Schalz-Laurenze

Aufführungen: 1.12., 3.12., 10.12., 16. und 19. 12. jeweils um 20 Uhr.