■ Der Politologe Gero Neugebauer über die Thesen der PDS für ein neues Grundsatzprogramm: Im Westen kommt sie damit nicht an
: „Die PDS muss raus aus ihrem Ghetto“

Es wird nicht klar, was Sozialismus als Ziel der Politik eigentlich bedeutet

taz: Wozu braucht die PDS ein neues Programm? Weil die Partei nicht weiß, wo sie hinwill?

Gero Neugebauer: Nein, weil die PDS nicht weiß, wohin sie kommt, wenn sie kein neues Programm macht.

Aber die PDS hat auf ihrem letzten Parteitag ausdrücklich offen gelassen, ob sie ein komplett neues Programm schreibt oder das alte nur umformuliert.

Die Führung kann sich nicht entscheiden, ob sie ihrer Partei einen Tritt gibt. Sie müsste eigentlich durchsetzen, dass sich die PDS der modernen Gesellschaft öffnet. Aber die Führung möchte die eigenen Genossen nicht verschrecken, also laviert sie.

Viele Genossen befürchten, die Parteiführung wolle eigentlich kein neues Programm, sondern gleich eine neue PDS. Sind die Befürchtungen berechtigt?

Wenn ich die jetzt vorgelegten Programmthesen zum Maßstab nehme – nein. Mit einem neuen Programm will die PDS-Spitze zum einen völlig neue Wählerschichten für sich erschließen. Zum anderen möchte sie Akzeptanz bei den anderen Parteien gewinnen. Deshalb sind die Thesen inhaltlich so weit gefasst. Die PDS geht damit über ihr Parteiprogramm von 1993 hinaus.

In welchen Punkten?

Die Thesen gehen, im Gegensatz zu allen anderen programmatischen Papieren, stärker davon aus, dass die politischen Akteure in der Zukunft weniger die Parteien sind und dass die parlamentarischen Institutionen an Einfluss verlieren. Die PDS setzt wieder mehr auf die außerparlamentarischen Kräfte. Sie nennt das nur nicht mehr so. Bei ihr heißen sie jetzt zivilgesellschaftliche Gegenmächte. Die PDS setzt dabei vor allem auf die Gewerkschaften.

Der SED ist es in der DDR nicht gelungen, die sozialistische Theorie an die Wirklichkeit anzupassen. Warum sollte das der PDS ausgerechnet in der jetzigen Gesellschaft gelingen?

Das weiß die Partei selbst nicht genau. In den Programmthesen wird nicht so richtig klar, was Sozialismus als Ziel der Politik eigentlich bedeutet. Und schleierhaft ist mir, wie man mit einer Konzeption, in der völlig unterschiedliche Gesellschaftsauffassungen nebeneinander stehen, gesellschaftliche Mehrheiten erringen will. Die PDS möchte, so erklärt sie, die Dominanz des Kapitals brechen. Das will sie über staatliche Eingriffe erreichen, für die sie jetzt schon Möglichkeiten sieht, z. B. durch Steuerpolitik.

Auf eine Enteignung der Kapitaleigentümer, wie es bei Marx noch heißt, verzichtet die PDS aber ausdrücklich.

Das ist ein Fortschritt gegenüber dem bisherigen Programm, wie sich die Partei überhaupt in der Eigentumsfrage bewegt hat. Künftig will die PDS die Unternehmen zu sozial und ökologisch nachhaltig wirkenden Entscheidungen drängen, ohne deren Gewinninteressen zu ignorieren.

Wie soll das gehen?

Wenn bestimmte Standards nicht eingehalten werden, dann soll nach einem entsprechenden Artikel des Grundgesetzes – der wird vorsichtshalber nicht genannt – das Eigentum weggenommen und in Gemeineigentum umgewandelt werden. Aber wenn man davon ausgeht, dass heute Wirtschaft im Zentrum von Politik steht und das Massenbewusstsein alles andere als links ist – wie, bitte schön, kann eine Partei darauf hoffen, für einen solchen Schwachsinn Mehrheiten zu gewinnen?

Vielleicht hofft die PDS ja immer noch, die Menschen werden schon irgendwann einsehen, dass ihre Vorstellungen das Glück auf Erden versprechen.

Die Thesen sind nicht frei von diesen alten avantgardistischen Vorstellungen. Die Kämpfe der Zukunft werden Prozesse der Suche nach einer neuen Lebensweise sein, heißt es an einer Stelle. Die PDS möchte zwar keinem Bürger, ich zitiere jetzt wörtlich „die Freude an schönen Dingen nehmen“. Aber Lebensstile, „die von der hektischen Jagd nach der Ablösung des Neuesten durch das noch Neuere bestimmt sind, die Genuss auf stofflichen Konsum reduzieren und schließlich [. . .] zu einer Verödung der Lebensweise führen“, sollen nicht gepflegt werden. Leute, die zu ihrem Glück gezwungen werden sollen, werden der PDS die entsprechende Antwort geben: Ihr könnt mich mal!

Der PDS wird vorgeworfen, in der Programmdiskussion nicht über die 20er-Jahre und den Stand von Kautsky hinausgekommen zu sein. Findet die Partei mit den jetzigen Programmthesen Anschluss an den Erkenntnisstand der Linken im Westen?

Zum Teil, insbesondere dort, wo sie Positionen der so genannten Moderne-Konzeption übernimmt. Die PDS erkennt stärker als in irgendeinem Dokument zuvor die Vorzüge der kapitalistischen Gesellschaft an. Sie hält die demokratischen Verhältnisse in der heutigen Bundesrepublik zwar für kritikwürdig, aber auch für eine zivilisatorische Errungenschaft. In einigen Bereichen der praktischen Politik – Soziales, Steuern, Arbeitsmarkt, Jugend – greift sie Positionen von SPD und Grünen auf.

Die PDS geht mit ihren Thesen nicht über das Parteiprogramm von 1993 hinaus

Bedeutet ein neues Parteiprogramm das Bad Godesberg für die PDS, wird sie also marktwirtschaftlich und westlich?

Auf der Basis dieser Thesen wird es kein Bad Godesberg für die PDS geben. Die Partei bewegt sich zwar in einigen Punkten, aber sie baut immer wieder Rückversicherungen ein. Es ähnelt sehr der Echternacher Springprozession: ein Schritt nach links, einer nach rechts, einer nach vorn. So kommt man auch vorwärts. Aber die PDS wird nur durch die Umstände getrieben, vor allem durch ihre Wahlerfolge. Eigene Leistungen sind dahinter kaum zu erkennen.

So gut wie alle in der PDS geben aber vor, gar kein Bad Godesberg zu wollen. Das riecht ihnen nach Anpassung an das System.

Bad Godesberg ist für sie belastet. Es markiert den Übergang von der marxistischen Gesellschaftsanalyse zu einer pragmatisch orientierten, sozialen und demokratischen Politik, wie bei der SPD 1959. Aber in der PDS wird das falsch verstanden. Das hat immer noch mit der historischen Spaltung der Arbeiterbewegung zu tun. Viele Genossen in der PDS bezeichnen die Sozialdemokraten bis heute als Verräter an ihrer gemeinsamen Sache.

Dahinter steckt wahrscheinlich nur die Angst, sich auf die Wirklichkeit einzulassen und durch sie verändert zu werden.

Das mag sein. Aber das Problem ist doch ganz einfach: Die PDS muss, will sie überleben, neue Wähler gewinnen. Das schafft sie nur durch Kompetenz. Der stellvertretende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Helmut Holter, sagt, die PDS hat nur eine Zukunft, wenn sie Kompetenz als Regierungspartei unter Beweis stellt. Dafür muss die Partei raus aus ihrem ideologischen Ghetto, in dem sie sich selbst gefangen hält. Sie braucht ein Bad Godesberg, ob sie will oder nicht. Interview: Jens König