Schweden beginnt Atomausstieg

Als erster Reaktor wird Barsebäck nach jahrelangem Hin und Her heute abgeschaltet.Mit Entschädigung kauft sich Betreiber in deutsche AKW ein  ■   Aus Stockholm Reinhard Wolff

„Die Sonne geht auch am 1. Dezember auf“, tröstet sich Thomas Göransson, Betriebschef des AKW Barsebäck 1: „Am Dienstagnachmittag werden wir das Werk langsam herunterfahren, und kurz vor Mitternacht wird es ganz vom Netz genommen.“ Bis zum Sommer hatten er und die meisten anderen Angestellten noch Hoffnung gehabt, dass die von der Regierung verfügte Stilllegung des ersten schwedischen Atomreaktors wenigstens noch juristisch gestoppt werden könnte. Doch seitdem das oberste Gericht des Landes grünes Licht für den Einstieg in den Atomausstieg gegeben hatte, hat man sich auch in Barsebäck mit dem Schicksal abgefunden.

Ihre Anstellung bei der Betreiberfirma „Sydkraft“ werden die Angestellten zunächst sowieso nicht verlieren – dort haben alle 437 noch eine fünfjährige Beschäftigungsgarantie –, allenfalls ihren bisherigen Arbeitsplatz, und den auch nicht sofort. Der zweite Barsebäck-Reaktor soll nach bisherigen Regierungsplanungen noch bis zum Sommer 2001 weiterlaufen, und auch die Uranbrennstäbe von Reaktor 1 werden erst im Herbst nächsten Jahres entfernt werden. Bis dahin müssen die Kontrollarbeiten normal weitergeführt werden.

Man lässt sich also Zeit. Barsebäck 1 erst mal nur in Wartestellung einzumotten hat laut Werkschef Per Lindell nicht nur technische Gründe. Kurzfristig hofft er für dieses Jahr auf einen besonders strengen Winter in Südschweden: Gebe es erst einmal ernste Versorgungsschwierigkeiten und Stromrationierung, bestehe die Möglichkeit, dass die Regierung durch öffentlichen Druck gezwungen wird, das Werk wieder anzufahren. Und mittelfristig hofft man bei der Betriebsleitung, dass der EU-Gerichtshof im kommenden Jahr vielleicht doch noch Schwedens Atomausstiegsgesetz stoppen wird. Doch die meisten Juristen vermögen weder unter Konkurrenz- noch unter Enteignungsgesichtspunkten einen Grund für ein dann gleichermaßen verspätetes wie spektakuläres EU-Stoppsignal vorherzusehen.

Mögliche Stromversorgungsengpässe hätten am wenigsten mit dem abgestellten Barsebäck-Reaktor und seinen 615 MW zu tun. Seit dem Abschaltebeschluss vor drei Jahren hat Schwedens Stromindustrie Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von über 2.500 MW stillgelegt. Kein gutes Argument also, nun plötzlich der Regierung und dem Barsebäck-Beschluss einen schwarzen Peter in die Hand drücken zu wollen.

Wie es mit dem Atomausstieg jenseits des schon ins Visier genommenen Abstellens des zweiten Reaktors weitergehen soll, steht in den Sternen. Umfragen zeigen eine von Fall zu Fall schwankende Bevölkerungsmehrheit für oder gegen einen Ausstieg und hinsichtlich seiner Geschwindigkeit. Es gibt immer mehr Schweden, die die inzwischen nachgewachsene Generation erneut über den 1980 in einer Volksabstimmung entschiedenen Atomabschied abstimmen lassen wollen.

Das Ausstiegsdatum 2010 wurde faktisch sowieso gleichzeitig mit dem vor drei Jahren über einen Parteienkompromiss zustande gekommenen Barsebäck-Ausstiegsgesetz gestrichen. Denn in den vergangenen Jahren ist zu wenig zur Förderung alternativer Energiequellen getan worden, als dass sie bis dahin an die Stelle der Atomkraft treten könnten. Statt aus der Atomkraft auszusteigen, wird Schweden durch den Einstieg des staatlichen Energieunternehmens Vattenfall beim Hamburger Stromkonzern HEW plötzlich Eigentümer von mehr Atomkraft, als man in Barsebäck stilllegt. Die Atomkraftanteile von HEW an den Reaktoren von Krümmel, Brunsbüttel, Brokdorf und Stade entsprechen fast drei Reaktoren vom Barsebäck-Typ.

Den HEW-Kauf kann Vattenfall ironischerweise gerade wegen des Barsebäck-Abschaltens finanzieren: Man muss dem Barsebäck-Betreiber Sydkraft als Kompensation eigene Stromkapazität abtreten und wird vom Staat hierfür voraussichtlich 7 Milliarden Kronen erhalten. Runde 7,5 Milliarden Kronen kostet Vattenfall der HEW-Einstieg.

„Dass die Regierung dieses Vattenfall-Geschäft absegnet, kann nur bedeuten, dass man in Stockholm nicht recht an den Atomausstieg in Deutschland glaubt“, mutmaßt deshalb die Tageszeitung Svenska Dagbladet: Damit Vattenfall und somit der Staat nicht Geld verliert, könne die merkwürdige Situation entstehen, dass Stockholm, das vermeintliche Atomausstiegsvorbild, bald gegenüber Berlin zumindest gegen einen nicht ausreichend entschädigten Atomausstieg in Deutschland interveniert.