Erst die Verhandlung, dann die Verhandlung

■  Auf dem WTO-Gipfel könnte über Agrarbeihilfen, Umwelt- und Sozialstandards gesprochen werden – gäbe es nur eine Tagesordnung

Die Symbolik drängt sich auf. Unmittelbar vor dem Kongresszentrum von Seattle, in der heute Morgen die dritte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) eröffnet werden soll, hebt ein riesiger Schaufelbagger mit ohrenbetäubendem Lärm rund um die Uhr eine Baugrube aus. Auch das Kongresszentrum ist von Umbaumaßnahmen betroffen. WTO-Delegierte und Journalisten können nur durch Holzverschläge in das Gebäude gelangen.

Der Glanz des WTO-Gründungsgipfels von Marrakesch 1994 und auch noch der ersten Ministerkonferenz in Singapur 1996 ist verblasst. Den Welthandel in den Griff bekommen, der Menschheit zu mehr Wohlstand verhelfen, hieß es damals, und das möglichst zügig. Inzwischen ist die WTO selbst eine Baustelle – und über den Bauplan herrscht Ratlosigkeit.

Die Delegierten der Regierungen sind mit vielen Wünschen, aber weitgehend leeren Händen nach Seattle gekommen. Zwar mussten auch schon bei früheren Gipfeln der WTO die Minister in letzter Minute den Kompromiss herstellen, den ihre Beamten in monatelangen Vorverhandlungen nicht zustande gebracht hatten. Diese Dramaturgie gehört zum politischen Geschäft. Doch diesmal gibt es nicht einmal, wie sonst, einen Entwurf für eine Vereinbarung. Die muss, wenn aus der neuen großen Welthandelsrunde noch etwas werden soll, bis spätestens Freitagabend stehen. Wie sie in den nächsten vier Tagen noch zustande kommen soll, wusste in Seattle bis gestern niemand.

Der Streit, der alles blockiert, ist alt: Es geht um die Agrarsubventionen. Nur wenn die EU den Schutz ihrer Bauern aufgibt, wogegen sie sich standhaft weigert, bekommt US-Präsident Bill Clinton vom Kongress in Washington Verhandlungsvollmacht für anderere Themen – welche wiederum von der EU eingefordert werden.

Doch selbst wenn sich die großen Wirtschaftsmächte beim Agrarthema und in anderen zwischen ihnen strittigen Fragen noch einig würden: Der „Rest der Welt“ – die immerhin rund 100 WTO-Staaten aus dem Süden – will sich bei dieser Runde nicht mehr wie früher überfahren lassen. Die meisten Entwicklungsländer haben durch die Öffnung ihrer Grenzen in den letzten Jahren mehr verloren als gewonnen, und diese Erfahrungen will man bei neuen Liberalisierungen nicht wieder machen. Deshalb vertreten die WTO-Staaten aus dem Süden, so unterschiedlich sie sind, fast unisono die Forderung, vor Verhandlungen über neue Grenzöffnungen zunächst einmal die Auswirkungen der bisherigen Abkommen offiziell zu überprüfen und zu bewerten – so, wie das auch ausdrücklich vorgesehen war. Von weiter gehenden Diskussionen müsste man sie erst einmal überzeugen. Denn in der WTO gilt: Ein Staat, eine Stimme. Damit ist der „Rest der Welt“ in der Mehrheit.

Der hochtrabende Begriff von der „Millenniumsrunde“, die mit dieser dritten Ministerkonferenz der WTO eingeläutet werden sollte, fällt in Seattle kaum mehr. Stattdessen diskutieren Journalisten, Sicherheitsbeamte, Diplomaten und die örtlichen Medien eifrig über die Frage, „ob Fidel nun kommt oder nicht“. Der Kubaner wäre der einzige ausländische Staatschef in Seattle. Er könnte der Konferenz – ähnlich wie 1998 in Genf –, wenn schon keinen Glanz, so doch etwas Würze verleihen.

Andreas Zumach, Seattle