NGOs für moralische Selbstkontrolle?

■ betr.: „Herr Präsident, übergeben Sie den Preis nicht“, (Friedens preis an Annemarie Schimmel), taz vom 6. 9. 95

[...] Frau Schimmel unterhält eine altmodisch-liebevolle Neigungsbeziehung zum Islam. Ihre wissenschaftliche Leistung und ihre Publikationen, etwa zum Sufismus, sind allgemein anerkannt, worin sie ausdrückt, das vielzitierte „Fremde & Andere“ auch dann und darin anerkennen zu wollen, wenn es jenseits der universellen Normierung auch anders bleiben möchte. Ansonsten ist ihr nichts nachzusagen. Nachweislich hat sie mit keinem Wort die Verfolgung Rushdies gutgeheißen, die von Frau Nasrin ausdrücklich im Spiegel verurteilt wird. Vorgeworfen wird ihr daher im Grunde auch nur, daß sie sich medienunbeholfen jenseits jenes geschmacksfernen Zusammenhanges befindet, der PEN-Zentren und Schriftstellerverbände in Kontrollorgane für mentale Hygiene verwandelt hat.

Statt in Anbetracht der inzwischen weltweit anerkannten Bedeutungslosigkeit der deutschsprachigen Literatur Bemerkenswertes zu schreiben, tritt das Zweitrangige in den Vordergrund: die andauernde biografisch-moralische Inquisition auf Gegenseitigkeit. Wird Sascha Anderson als Stasi- Mann entlarvt, erklärt ihn dieselbe FAZ umstandslos zum schlechten Dichter, die davor das glatte Gegenteil nur kannte. Das literarische Urteil über Gottfried Benn ergibt sich für den Literaturpfaffen Theweleit allein aus dessen Biografie. Frau Roggenkamp entdeckt mittels phantastischer Projektion in der taz Klaus Staeck als Antisemiten, weil der den Juden Reich-Ranicki kritisiert. Dieser zerreißt moralisch Grass, um von diesem gegenzügig „Stalinist“ genannt zu werden, nicht Kritiker. Kaum aus eigener Verurteilung befreit, verurteilt Grass Frau Schimmel.

Die NGOs für moralische Selbstkontrolle, vormals Schriftstellerverbände, übersehen keinen und erbringen an nichtstaatlicher freiwilliger Gesinnungskontrolle ein Sozialprodukt, das unmoderne totalitäre Regimes noch niemals schafften. Anstelle des ästhetischen Urteils tritt das Sekundäre: Schriftsteller haben moralisch einwandfreie Menschen zu sein, oder sie sind keine. Während für alle bisherige Kulturgeschichte eher das Gegenteil galt. Und die Bücher der Literatur werden nicht mehr verbrannt, weil der Gedanke zuvor bereits verödet wird. Proust, de Sade, Joyce, Jean Genet, wer auch immer: Kinderschänder, Opiumesser, Sadisten, Kriminelle. Die Literatur wird durchforscht werden: Alle waren Verbrecher. Nach neuzeitlicher Correctness gehören sie sämtlich verboten, die Werke mindestens gereinigt. Wer heute, in der Art der Frau Schimmel, als Altphilologe, Altertumsforscher, als Ethnologe auf eine lebenslange Produktion zurückblickt, tut gut daran und kann nur noch bestehen, sich vor allem von den öffentlichen Schrifttumskammern zu distanzieren, weil vor dem Gutmenschen das Vergangene stets auch sehr unmoralisch war.

Da sie die harmlose Frau Schimmel negativ nicht einmal zitieren können, zitieren sie sich in ihren Aufrufen wahnhaft selber: „Wird die Preisverleihung zum Hohn für alle entrechteten Frauen und bedrohten Demokraten.“ Sie sollen nur nachschauen, wie vielen Verleihungen von Friedens- und Nobelpreisen an wirklich fragwürdige Leute sie alle schon kritiklos zugestimmt haben. Hans Brandscheidt, medico in-

ternational e.V., Frankfurt/Main