Tokyo Drifter

Zwischen Himmel und Hölle: Das japanische Kino der 90er Jahre im 3001 und B-Movie  ■ Von Tobias Nagl

Irgendwann dann finden wir uns auf einer Berufskiller-Meisterschaft wieder. Wie bei jedem Schützenfest gibt es Zielscheiben und ein Schiedsrichterteam, das über den ordnungsgemäßen Ablauf der Veranstaltung wacht. Und da stehen sie: die japanische Version von Léon, dem Profi, und der blonde Todesengel im Trenchcoat aus Chungking Express, der doch bei Wong Kar-Wai schon eine Hommage an Cassavetes' Gloria war. Das riecht natürlich verdächtig nach Tarantino, ist aber tatsächlich urkomisch. Mit weiteren postmodernen Zitatspielereien hält sich Postman Blues zum Glück zurück – wie übrigens die meisten Filme dieses Japan-Festivals.

Humor entsteht in der zweiten Regiearbeit des Schauspielers Sabu (World Apartment Horror) aus dem richtigen Timing von falscher Zeit und falschem Ort, ist also ganz klassische Slapstick-Situationskomik. So, wenn der Postbote Sawaki eines Abends bei einer Zustellung den Yakuza Noguchi trifft, der gerade im Begriff ist, sich einen Finger abzuschneiden. Es kommt, wie es kommen muss: Das fehlende Glied rollt in Sawakis Tasche, um damit eine Reihe von Verwechslungen und sich kreuzenden Handlungssträngen loszutreten, die über einen mit Bananenschalen gepflasterten Weg unaufhaltsam auf ihr hoch tragisches Ende zusteuern. Beim Lesen der Briefe in seiner Tasche stößt Sawaki auf eine krebskranke Frau, und zuletzt werden wir dann doch mit ihm in das tödliche Sperrfeuer der Polizei radeln.

Ein bei aller Komik erstaunlich ernsthaftes, das Melodramatische auf seiner Suche nach Wahrheit nicht scheuendes Kino ist es, das sich im B-Movie und 3001 präsentiert. Trotz kleinerer Zugeständnisse an die Freunde des japanischen Splatterfilms – die Industrial-Schinken Tetsuo I+II und Organ, einem wirklich krankes Exponat aus der Blutspenderkartei – ist auf dem mit wenig Geld und viel Herzblut zusammengestellten Festival so manche wirkliche Entdeckung unter den über 20 Beiträgen zu machen.

Wenn es um Entdeckungen der letzten Jahre geht, dann fällt im Westen meist sofort der Name Takeshi Kitano; er ist deshalb wohl auch gleich mehrfach vertreten. Als Regisseur von Kid's Return, einem herrlich lakonischen Jugendportrait mit deutlich autobiografischen Zügen, wie als Schauspieler in Geburt eines Sektenpriesters – dem Regiedebüt seines ehemaligen Regieassistenten Toshiro Tenma. Zunehmend hat sich über die Jahre um den Fernsehkomiker und Yakuza-Impersonator Kitano, der gerade erst regulär mit Kikujiros Sommer in den Kinos zu sehen war, ein kreatives Potential angesammelt, das nun mit eigenen Arbeiten an die Öffentlichkeit drängt.

Eine der schönsten und auch einem westlichen Publikum sofort zugänglichen Arbeiten aus dem Office Kitano-Stall ist sicherlich Hiroshi Shimizus Ikinai, die Geschichte einer ziemlich ungewöhnlichen Busfahrt. 12 lebensmüde Männer haben bei einem nicht minder depressiven Reiseleiter einen Vertrag abgeschlossen, der sie in den kollektiven Suizid führen wird, ihren Familien aber die Lebensversicherungsprämie sichern soll: Von einer notorisch gefährlichen Bergstraße aus wollen sie ihren Tod als Unfall inszenieren. Doch dann taucht am Busbahnhof ein junges Mädchen auf, das ein Ticket von ihrem kürzlich verstorbenen Onkel geerbt hat. Irgendwann durchschaut sie das grausame Spiel der frustrierten Familienväter und will sich mit ihrer ganz Kitanoesken Gelassenheit angesichts des Todes so gar nicht abfinden.

Im Zentrum des Festivals steht allerdings ein hierzulande noch unbekannter Name, den man sich wird merken müssen: Shunji Iwai, dessen später im Dezember startendes, überwältigendes Migrantendrama Yentown – Swallowtail Butterfly von einer Retrospektive seiner anderen Spielfilmarbeiten flankiert wird: Picnic, Love Letter und April Story. Stadtfilm und epischer Schelmenroman, Thriller und Melodram zugleich, erzählt Yentown mit entfesselter Handkamera die Geschichte einer Gang von ost-asiatischen Outcasts in den Elendsvierteln von Tokio. Spannend an dieser visuell extravaganten Meditation über das Leben in den urbanen Peripherien der neuen Weltordnung ist natürlich nicht nur Iwais formale Meisterschaft oder die Rasanz der Plots. Der dreht sich um eine – im Magen eines Yakuza! – gefundene Kassette, auf der sich eine Aufnahme von Frank Sinatras „My Way“ befindet – und der Datensatz zur Herstellung von Falschgeld. Wie im Yakuza-Polit-Roadmovie Kamikaze Taxi zeichnet sich in Yentown ein faszinierendes Bemühen um so etwas wie einen neuen Realismus ab: in der Hinwendung von der Psychologie der japanischen Arbeitsgesellschaft zur Ökonomie ihrer Ausschlüsse.

Zwischen Himmel und Hölle – Das japanische Kino der 90er Jahre : Do, 2. – Mi, 15. Dezember

Eröffnung im 3001 (mit Pornostar): Do, 2. 12, 20 Uhr

Eröffnung im B-Movie (mit Geburt eines Sektenpriesters): Do, 2. 12. , 20.30 Uhr; Kartenvorkauf im 3001, täglich ab 15.30 Uhr