Gefangene der Großfamilie

■ Die Bachmann-Preisträgerin Terézia Mora liest heute im Literaturhaus aus ihrem Debüt-Erzählband „Seltsame Materie“

Der Begriff „Heimat“, so scheint es, hat für Terézia Mora jegliche romantischen Konnotationen verloren. In einem ungarischen Dorf an der Grenze zu Österreich leben die jugendlichen Charaktere, die in den Erzählungen der diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin versammelt sind: gefangen in Großfamilien, dem Ersticken an zwischenmenschlicher Kälte nur durch Eigenbrötlertum entronnen. In Moras Heimat gibt es keine Idylle, nur Isolation. Menschen riechen hier nach Rost und Motorbootöl, und selbst in Kindheitserinnerungen verstopfen Schmutz und Staub dem Pathos die Poren. So erinnert sich die Erzählerin in „Der See“: „Im Sommer laufen wir barfuß Ä...Ü und in den Lücken zwischen den Latten schlagen wir uns die Zehenkappen ab. Das Blut, die Vogelscheiße klebt an unseren Füßen und der graue Schlamm des Seebodens.“

Seltsamen Materie ist der Titel von Moras Debütwerk und gleichzeitig der Versuch der Autorin, ihr Verhältnis zum Heimatort aus der Ferne zu begreifen. Und seltsam, fast schon mystisch ist ihre Erzählweise: Die Figuren sind merkwürdig kalt skizziert und mechanisch in ihrer Härte, und trotzdem wirkt der beobachtete Augenblick intensiv in Farbe und Geruch. Die großen Dramen, bedingt durch politische und geografische Verhältnisse, sind oft nur Randerscheinungen, die Details des Alltags allein sind von traumatischer Natur. In „Durst“ zum Beispiel fokussiert das narrative Auge viel lieber die routinierten Trinkgewohnheiten des Großvaters als dessen gewaltsamen Tod.

„Sag es einfach. Wort für Wort. Leg keinen Pathos hi-nein. Schluchze nicht. Schmelze nicht.“ Ein Zitat aus der Titelgeschichte von Seltsame Materie verrät die selbstgestellte Arbeitsanweisung hinter den Geschichten Moras und bringt ihre distanzierte Beziehung zur eigenen Herkunft auf den Punkt. pol

heute, 20 Uhr, Literaturhaus; Terézia Mora: „Seltsame Materie“. Erzählungen. Rohwolt-Verlag, Reinbek 1999, 160 Seiten, 29,80 Mark