Jerry Garcias letzter Trip

Mit 53 Jahren starb der multitalentierte Gitarrist und Sänger der kalifornischen Rock- und Kultband Grateful Dead — an Herzversagen  ■ Von Matti Lieske

Als Jerry Garcia 1986 in ein diabetisches Koma fiel und einige Tage mit dem Tode rang, riefen bei der Grateful-Dead-Hotline 65.000 Leute an, die sich nach seinem Befinden erkundigten. Als der Gitarrist der kalifornischen Band wieder erwachte, quoll sein Krankenzimmer über von Blumen und Geschenken. „I will survive“, sang Garcia danach trotzig in „Touch Of Grey“, dem einzigen Top-ten- Song in der Geschichte der Grateful Dead, es waren ihm jedoch nur noch knapp neun Jahre vergönnt. Am Mittwoch starb Garcia in einem Drogentherapiezentrum 53jährig an einem Herzschlag. So plötzlich, daß für Anrufe und Geschenke keine Zeit mehr war.

Jahrelanger Drogengebrauch, der tägliche Konsum von drei Packungen Zigaretten und eine ungute Vorliebe für Junk food hatten Garcias Körper arg mitgenommen. 1985 war die Abhängigkeit von Heroin und Kokain so weit fortgeschritten, daß ihm die Band ein Ultimatum stellte: Drogen oder Grateful Dead. Er unterzog sich einer Entziehungskur. Ironischerweise erfolgte der körperliche Zusammenbruch kurze Zeit danach, als er erstmals seit vielen Jahren clean war.

1991 wurden erneut Konzerte abgesagt, als Garcia, der sich inmitten seiner zahlreichen Projekte selten Ruhe gönnte, wegen totaler Erschöpfung in ärztliche Behandlung begeben mußte. Wenn er nicht mit Grateful Dead die Stadien füllte, spielte er mit seiner Jerry Garcia Band, sang Kinderlieder und Bluegrass, wirkte auf Platten anderer Musiker mit, malte Bilder oder betätigte sich als Designer für Krawatten, Hemden und Fahrräder, die reißenden Absatz fanden. „Seine Gesundheitsprobleme sind nicht akut, sondern chronisch“, sagte sein Arzt und diagnostizierte eine schwache Lunge, ein vergrößertes Herz und eine leichte Zuckerkrankheit. Brav gewöhnte sich Garcia das Rauchen ab, reduzierte sein beträchtliches Gewicht durch eine vegetarische Diät, begann zu tauchen und absolvierte ein regelmäßiges Fitneßtraining. 1994 heiratete er zum vierten Mal, seine musikalische Kreativität schien ungebrochen, und bei Auftritten der Grateful Dead präsentierte er sich in bester Verfassung. Gerüchte von Rückfällen in alte Drogengewohnheiten wollten jedoch nicht verstummen. Warum er sich in dem Therapiezentrum aufhielt, war zunächst unklar. „Ich dachte, er sei in Hawaii“, sagte Grateful- Dead-Sprecher McNally.

Seine erste Gitarre erhielt Jerry Garcia mit 15 Jahren, sie war von seinem Stiefvater allerdings so miserabel gestimmt, daß er nichts Vernünftiges darauf zustande brachte. Das änderte sich ziemlich schnell, und es zeigte sich, daß dieses Instrument wie geschaffen für ihn war. Mit 17 verließ der widerspenstige Jugendliche die Schule und ging zur Armee, wo er sich jedoch so undiszipliniert benahm, daß er nach zwei Kriegsgerichtsverfahren unehrenhaft entlassen wurde. Er zog nach Palo Alto, wo er sich als Gitarrenlehrer durchschlug und ein großes Talent als Bandgründer entwickelte. Seine Musik war Folk und Bluegrass, trotz seiner brüchigen Stimme sang er furchtlos drauflos, spielte dazu phänomenal auf Gitarre und Banjo, und bald war der charismatische Spitzbartträger eine der größten Attraktionen in den Caféhäusern der südlichen Bay Area.

1963 traf er den Bluesmusiker Pigpen, dazu kamen ein Jüngling namens Bob Weir, Bassist Phil Lesh, der Schlagzeuger Bill Kreutzman – geboren waren die Grateful Dead, die zunächst Warlocks hießen. Weithin bekannt wurden sie durch die „Acid Tests“, die die Merry Pranksters um Ken Kesey veranstalteten, dann begann die Hippie-Zeit mit Free-Concerts, Bill Grahams Fillmore West und der Drogen- und Blumenidylle von Haight-Ashbury. Die Grateful Dead avancierten zur West-Coast- Band par excellence, ihre vielstündigen Konzerte hatten bald einen legendären Ruf.

Geprägt wurde der Sound der Dead, ob wildeste Psychedelic-Eskapaden, treibender Rock, sentimentale Balladen, Dylan-Songs oder schlichte Folkmelodien, von Garcias glasklaren, gefühlvollen Gitarrenläufen, die im Wechselspiel mit Bob Weirs Gitarre und dem Rest der Band eine ungeheure Dynamik produzieren konnten. „Bald hatte ich ein Gefühl, als würde ich in den Sog einer Düse hineingepeitscht“, beschreibt Mickey Hart, zweiter Drummer der Band, sein erstes Konzert mit den Grateful Dead.

Während Garcia die Aura des „spanischen Gentleman“ (ein Weggefährte aus frühen Palo- Alto-Zeiten) und wilden Hippies langsam mit der des gütigen Großvaters vertauschte, der seiner Gitarre weißhaarig und mild lächelnd bizarre und einschmeichelnde Laute entlockt, erwarb sich die Band eine Anhängerschaft, die ihnen bis heute die Treue hielt und überallhin nachreiste: die Deadheads. „Amerika ist so langweilig geworden. Überall schließen sich die Türen, die Möglichkeiten, etwas Abenteuerliches und Spaßiges zu tun, sind geringer und geringer geworden“, sagte Garcia 1991. „Die Grateful Dead sind eines der letzten Lauf-davon-und-gehe- zum-Zirkus-Ereignisse.“ Der Zirkusdirektor war, auch wenn er es nie sein wollte, „Captain Trips“ Jerry Garcia. Mit seinem Tod, das scheint gewiß, ist auch die 30jährige Geschichte der Grateful Dead beendet. Ihr letztes Konzert gaben sie am 9. Juli 1995 in Chicago. Wohl dem, der dabei war.