General Mladić und der Todeskonvoi

Der bosnische Serbenführer soll in Srebrenica zu Vergewaltigungen und Mord aufgerufen haben und bei Massakern persönlich anwesend gewesen sein. Dies geht aus Berichten von Flüchtlingen hervor.  ■ Aus Tuzla Roy Gutman

General Ratko Mladić, der militärische Führer der bosnischen Serben, hat nach Angaben von Augenzeugen in der ehemaligen UN-Schutzzone Srebrenica ein blutiges „Fest“ angekündigt. Außerdem sei er bei zahlreichen Massakern, die daraufhin stattgefunden hätten, persönlich anwesend gewesen.

Flüchtlinge berichteten in Interviews mit Newsday, Mladić habe wiederholt seine Absicht bekundet, so viele Muslime wie möglich umzubringen, insbesondere körperlich gesunde Männer. Bei einer Gelegenheit soll er seine Truppe auch ermuntert haben, die jungen Frauen von Srebrenica zu vergewaltigen.

„Es gab große Grausamkeiten“, sagt John Shattuck, der stellvertretende Staatssekretär für Menschenrechte im US-amerikanischen Außenministerium. Seine eigenen Interviews mit mehr als einem Dutzend Überlebenden von Srebrenica und dessen benachbarter Enklave Žepa hätten „substantielle neue Belege über Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gebracht, sagt Shattuck. „Die Beteiligung von Mladić ist unbestreitbar. Er war omnipräsent.“

Die Morde und das Verschwinden von Menschen, über die nach der Eroberung von Srebrenica durch Mladić berichtet wurde, dürften zu den schlimmsten Kriegsverbrechen gehören, die fast seit Kriegsbeginn das Gewissen der Welt ab 1992 aufrüttelten.

Mladić hat bisher abgestritten, irgend etwas Verwerfliches getan zu haben. Nachdem er am 1. August von dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde, erklärte er gegenüber Journalisten: „Ich habe mich daran gewöhnt. Ich bin nur ein Mann, der sein Volk verteidigt.“ Er sagte, die Vorwürfe wegen Vergewaltigungen seien unbegründet, weil „Serben zu wählerisch“ seien und sich nicht zu muslimischen Frauen hingezogen fühlten, die vergewaltigt würden.

Er sagte weiter, bei den Männern und Jugendlichen, die von serbischen Truppen aufgegriffen worden seien, handele es sich um „Kriegsverbrecher“. Auf die große Zahl von Vermißten ging er nicht weiter ein.

Flüchtlinge sagten gegenüber Newsday, Menschenrechtsermittlern und Shattuck, daß Mladić täglich vor Tausenden von Menschen erschienen sei, die sich am 11. Juli unter den vermeintlichen Schutz der dänischen Blauhelmtruppen in Potocari begeben hatten, 10 Kilometer von Srebrenica entfernt. Er sei in einem Luxus-Sedan oder zu Pferde erschienen und habe manchmal Schokolade an Kinder verteilt.

Nach Angaben von Nedzida Sadiković habe Mladić etwa am 12. Juli ein blutiges „Fest“ angekündigt. Sadiković gibt an, sie sei bei dieser Gelegenheit dabeigewesen. Als Mladić die große Zahl der Männer und Jungen unter den Tausenden von Flüchtlingen gesehen habe, erinnert sich Sadiković, habe er ausgerufen: „Da sind so viele. Das wird ein meze (ein langes, köstliches Gelage, d.Red.). Das Blut wird euch bis an die Knie stehen“. Dann habe er mit dem Kopf in Richtung der vielen jungen Frauen in der Menge genickt. „Wunderbar. Behaltet die guten da drüben. Genießt sie“, soll er nach Angaben Sadikovićs zu seinen Soldaten gesagt haben.

Jede Nacht, erzählt die 42jährige Sadiković, seien junge Frauen aus dem Gebäude auf dem Gelände der Fabrik von Potocari geholt worden, in dem sie sich aufhielten. Niemand habe sie wieder gesehen. Männer und Jugendliche zwischen sechzehn und sechzig seien weggeführt worden. Zurückgekehrt seien sie nicht. Dänische Soldaten berichten, sie hätten Tag und Nacht aus dem Wald über Srebrenića Schüsse gehört, die sie für Exekutionen hielten.

Nach Angaben eines anderen Zeugen drohte Mladić etwa einen Tag später an einem anderen Ort offen, mehr als viertausend muslimische Männer und Jugendliche zu exekutieren, die von seinen Truppen gefangengenommen wurden, als sie versuchten, zu Fuß aus der Gegend zu fliehen. Als er im Fußballstadion der serbisch besetzten Stadt Nova Kasaba erschienen sei, habe Mladić seinen Gefangenen zuerst versichert, er werde sie beschützen. Dann habe er seinen Ton gewechselt und den Truppen der bosnischen Armee vorgeworfen, siebzig serbische Soldaten in einem Gefecht um sein Heimatdorf getötet zu haben. „Für jeden von meinen Leuten werden tausend von euren sterben“, habe er gesagt. Das berichtet Smail Hodzić, ein 63jähriger Flüchtling aus Cerska, der sagt, er habe selbst in der Menge gestanden.

Den Männern seien dann die Augen verbunden worden. Sie seien auf Lastwagen mit Planen gebracht und schließlich zu dem Platz gefahren worden, wo sie getötet werden sollten, vermutlich ein Dorf namens Grbavce. Hodzić berichtet, er habe auf der Fahrt, wenige Minuten vor dem Zeitpunkt, an dem er getötet werden sollte, die Binde vor seinen Augen einen Moment beiseite geschoben und nach hinten aus dem Lastwagen geschaut. In einem Jeep, der dem Todeskonvoi folgte, habe er General Mladić gesehen, berichtet Hodzić.

Mindestens zweitausend muslimische Männer und Jugendliche seien an diesem Abend erschossen worden, sagt er. Er habe überlebt, weil er bei der ersten Maschinengewehrsalve unter einen Mann gefallen sei, der getötet wurde. Hodzić berichtet, er habe einige Stunden gewartet und sei dann über zweihundert Leichen in die nahegelegenen Wälder gekrochen. Er selbst und zwei andere, die ebenfalls entkommen waren, gelangten in elf Tagen zu Fuß in das Gebiet der bosnischen Regierungsarmee.

Nach Angaben des höchsten gewählten zivilen Beamten in dieser Gegend, dem Bürgermeister von Tuzla, Selim Beslagić, werden über 10.000 der 42.000 Einwohner von Srebrenica noch vermißt. Außer den 31.000 Flüchtlingen in Tuzla konnte das Internationale Rote Kreuz nur 164 Überlebende aus Srebrenica in einem Straflager in Batković ausfindig machen. Mladić soll Gefangene auch an anderen Orten festgehalten haben, aber Mitarbeiter des Roten Kreuzes sagen, es habe beinahe alle Stellen inspiziert und keine Gefangenen gefunden.

In der Zwischenzeit trifft sich Mladić dank seiner engen Verbindung zum serbischen Präsidenten Slobodan Milošević mit Politikern aus aller Welt. Mitte Juli soll Mladić nach Angaben eines hohen US- Diplomaten mit am Tisch gesessen haben, als Carl Bildt, Unterhändler der Europäischen Union, Belgrad besuchte, um die Zukunft von Bosnien zu besprechen. Letzte Woche sagte Bildt zu Newsday, es sei möglich, daß er Mladić in Belgrad getroffen habe. „Es liegt in der Natur der Sache, daß wir mit jedem reden müssen“, sagte er.

Flüchtlinge aus Srebrenica berichten außerdem, beim Angriff von Mladićs Truppen sei Giftgas eingesetzt worden. Auch seien Soldaten mit Hilfe von Uniformen und Fahrzeugen, die den dänischen Blauhelmen abgenommen wurden, als UN-Offiziere aufgetreten. Shattuck sagte, er habe ebenfalls glaubwürdige Berichte über die Verwendung von giftigen Substanzen gehört.

Sakir Muratović, ein 33jähriger Soldat der bosnischen Armee, verließ Srebrenica am 10. Juli zusammen mit Hodzić und etwa 15.000 anderen Menschen, von denen 12.000 Soldaten und der Rest Zivilisten gewesen seien. Bei Konjevic Polje, einer Stadt, die die Serben 1993 erobert hatten, bemerkte Murativić eine Veränderung in der Luft. „Plötzlich roch es nach Rosen“, sagte er. Menschen in der Kolonne hätten sich verhalten, als stünden sie unter Drogen. „Einige waren benommen, andere verloren ihre Erinnerung. Sie gingen auf einander los, und einige schossen sogar aufeinander.“ Muratović verließ die Gruppe und beobachtete am nächsten Tag, wie serbische Truppen in UN-Fahrzeugen ankamen und über Megaphone versprachen, die Menschen in Sicherheit zu bringen.

Er sagte, die Serben hätten bekanntgegeben, wenn eine Gruppe ankam, und die Zahl der Flüchtlinge mit insgesamt 2.500 beziffert. Nach Angaben von Überlebenden wurden diese Männer später exekutiert. Muratović brauchte mehr als siebzehn Tage, bis er bosnisches Territorium erreichte.

Ein Merkmal in fast jedem Bericht von Überlebenden über die Ausschreitungen, die Mladić begangen haben soll, ist, daß er zunächst beruhigend auf die Leute eingeredet habe, kurz ehe das Gemetzel begann. Ramiza Begić, eine Frau aus Srebrenica, erinnerte sich, Mladić gesehen zu haben, wie er vor ihrer Abfahrt von Potocari nach Tuzla am 13. Juli einen Lastwagenkonvoi von Flüchtlingen inspizierte. „Er ging die Reihen der Lastwagen entlang und sagte: ,Faßt sie nicht an‘. In der Zwischenzeit nahmen seine Begleiter Menschen aus den Wagen und schnitten ihnen die Kehle durch.“ Begić sagte, sie habe mindestens zehn Opfer gesehen, meist ältere Leute.

Der 47jährige Hasna Fejzić erinnert sich, wie Mladić am 15. Juli einen Buskonvoi wegschickte, mit dem Befehl, die Insassen zu ermorden. Sie zitierte ihn mit den Worten: „Massakriert alles von jung bis alt“. – „Ali dachte, ganz Bosnien würde seins sein“, habe Mladić hinzugefügt, wobei er den bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović gemeint habe. „Er wird nichts bekommen“, habe Mladić gesagt.

Während Fejzićs Busfahrt seien fünf junge Mädchen und fünfzehn Jungen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren aus dem Fahrzeug weggebracht worden. Niemand habe sie wiedergesehen. Ein junges Mädchen aus Srebrenica sei halbnackt in den Bus eingestiegen. Sie habe schlimme Schürfwunden gehabt, und man könne fast sicher sei, daß sie vergewaltigt worden sei, berichtet Fejzić. Bei der Ankunft in Tuzla habe sie sich an einem Baum erhängt.

Der Artikel wurde für „Newsday“ geschrieben und über den „Washington Post“-Service vertrieben.