■ Ein Militäreinsatz in Bosnien ist unvermeidlich geworden
: „Uns steht kein Fluchtweg offen“

Es war ein Bild, das lange in der Erinnerung haften wird: Hans Koschnick, EU-Administrator im bosnischen Mostar, physisch und seelisch mitgenommen von den Kriegserfahrungen, auf die Frage des „Tagesthemen“-Moderators Ulrich Wickert, was zu tun sei: „Es muß etwas getan werden. Es geht so nicht weiter ...“ Vor der Antwort, die ihm auf der Zunge lag, schreckte er zurück. Welcher?

Ja, was sollte in Bosnien, in Kroatien, was sollte auf dem Balkan geschehen? Was müßte getan werden, um diesen schlimmsten Greueln unserer an Greueln wahrlich nicht armen Epoche Einhalt zu gebieten? Wie kann dieser „Zivilisationsbruch“ mitten in Europa, wie kann der Furor serbiens sein längst verdientes Ende finden? Niemandem kann die Antwort auf diese Fragen leicht fallen, zumal der Balkankrieg zu weit fortgeschritten ist, als daß dem drohenden „Schrecken ohne Ende“ eine andere Alternative entgegengesetzt werden könnte als die des „Endes mit Schrecken“. Wieder ist die verheerende Dialektik jeder Beschwichtigungspolitik gegenüber einem entschlossenen Angreifer wirksam: Appeasement erzeugt gerade das, was es zu verhindern vorgibt – noch mehr Opfer.

Der Krieg ist unvermeidlich geworden, wenn die ganze Welt nicht weiter zusehen will, wie ein schwaches Volk von einem stärkeren in die Rechtlosigkeit und in die totale Niederlage getrieben werden soll. Und das Leiden danach sich fortsetzt. An diesem Kampf wird Deutschland beteiligt sein, und damit wird ein Tabu durchbrochen: daß zum ersten Mal nach 1945 in einer bewaffneten Auseinandersetzung auch deutsches Blut fließen könnte. Für Tausende von englischen, französischen, amerikanischen Müttern längst erlittenes Schicksal, stößt diese Möglichkeit bei uns in Deutschland auf die höchste aller internationalen Hemmschwellen, auf ein geradezu kreatürliches Entsetzen, auf eine inneren Blockade, die den Gedanken einer „gleichberechtigten“ Beteiligung Deutschlands an dem Waffengang und seiner potentiellen Verluste entgegenstehen. Diese Hemmungen haben sich schon aus Anlaß eines ferneren Kriegsschauplatzes geäußert: während des Golfkriegs 1991. Ich habe das damals mit gespaltenen Gefühlen erlebt, angesichts eines Tel Aviv, das unter irakischem Raketenbeschuß lag, während auf den Transparenten der „Friedensbewegung“ alle Namen erschienen, nur nicht der Saddam Husseins.

Aber hinter allem steckte in Deutschland unverbergbar – Angst! Furcht vor physischer Versehrung bei Ausweitung des Golfkrieges. Das war neu für mich, das war erschreckend angesichts einer Nationalgeschichte, in deren Verlauf sich Millionen von Deutschen unter dem Ehrenkodex des Eisernen Kreuzes eher töten ließen als aus dem Eingeständnis der eigenen Furcht politische Konsequenzen zu ziehen. Ich werde nie vergessen, was in mir vorging, als ich diese Angst entdeckte, es war wie ein erlösender Schock, trotz der zwiespältigen Empfindungen angesichts ihrer Auslösung durch den Golfkrieg, dessen Ausgang auch über das Schicksal Israels entschied. Mich hat dieses ehrliche Eingeständnis tief berührt, zumal es geäußert wurde in einem Land, dessen Menschen von einer fast pathologischen Scheu vor jeder öffentlichen Demonstration von Gefühlen befallen sind.

Nur – Deutschland wird sich den dadurch zum Ausdruck kommenden erwünschten Status nicht erhalten können. Die Frage seiner Beteiligung bei internationalen Konflikten wird 1995 viel eindringlicher gestellt als je zuvor. Die Statistenrolle, die dem Wirtschaftsriesen Deutschland so lange im Schatten der Weltpolitik zukam, die es genoß und von der wir auch beschützt wurden, diese Idylle wird nicht länger aufrechtzuerhalten sein. Und der Bosnien-Krieg bringt es an den Tag. Er bezieht uns in alles ein, was da aus den Tälern und von den Bergen zwischen Bihać und Gorazde hochwölkt und sich am Himmel Europas zu einer Wolke schwerster Lasten für Gegenwart und Zukunft verdichtet hat – allen voran die Erosion nachbarlichen Vertrauens, dieser lebensnotwendigen Voraussetzung jeden friedlichen Miteinanders von Menschen, zumal solchen verschiedener Ethnien. Eine der schrecklichsten Tatsachen dieses Krieges besteht darin, daß es Nachbarn waren und sind, die gefoltert, vergewaltigt, in die Flucht geschlagen und getötet werden. Unweigerlich und immer unverblümter erhebt sich die eine Frage über alle anderen: Wo kann dergleichen noch geschehen, wo die Bestie des Nationalismus sonst mobilisiert werden? Wie fest sind die scheinbar selbstverständlichen Bande zum Nächsten, wie sicher die humanen Traditionen, auf denen diese Beziehungen fußen? Bedarf es erst des Drucks balkanischer Verhältnisse, ehe scheinbar festgefügte Bindungen sich auch anderswo lockern und man einander Verbrechen zufügt, deren sich niemand für fähig glaubt?

Es ist dieser Entzug des nachbarschaftlichen Vertrauens, das in die verstörte Wahrnehmung vor allem Europas schleichend eindringt, und von allen Wirkungen, die aus der Balkan-Region hinausdringen, erschreckt mich die Erosion dieses Vertrauens am meisten.

Es ist richtig, daß auch an Serben Grausamkeiten begangen worden sind. Aber alle Berichte, eingeschlossen die des nun resignierenden Tadeusz Masowiecki, weisen die überwältigende Masse der Verbrechen und der Menschenrechtsverletzungen der bosnisch-serbischen Kriegspartei zu. Ich fordere deshalb meine serbischen Schriftstellerkollegen und -kolleginnen auf, ihre Stimme gegen Radovan Karadžić und seine Folterer, Mörder und Vertreiber zu erheben, und sich nicht dahinter zu verschanzen, „die anderen haben auch Verbrechen begangen“. Und ich fordere meinen Freund, den Schriftsteller Radomir Smiljanic in Belgrad, auf, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.

Wir sind alle involviert, wir alle sind Mitwisser, uns steht kein Fluchtweg offen. Es muß ein Ende sein. Ohne den militärischen Eingriff der Nato-Mächte sind die Opfer der serbischen Angreifer, ist Bosniens Muslimbevölkerung nicht mehr zu retten. Ansonsten kann die Glaubwürdigkeit der Völkergemeinschaft abdanken. Und in diesen Krieg ist Deutschland einbezogen. Mir stockt die Hand, während ich diese mir selbst gegen allen Willen und jede Neigung abverlangten Worte schreibe.

Aber dahinter stehen die unvergessenen Erfahrungen eines ganzen Lebens mit den Aggressionen dieses Jahrhunderts und der frühen Erkenntnis der einzigen Wahl, die sie lassen: Sie schlagen zu müssen! Schlagen zu müssen, nachdem sie erst stark werden konnten. Darin liegt das eigentliche, das Vorverbrechen. Dafür muß nun gezahlt werden. Auch von uns, von Deutschland. Ralph Giordano

Unser Autor, 72, ist Schriftsteller und Publizist (u. a. „Die Bertinis“ und „Israel, um Himmels willen Israel“)