Das Verschwinden der Mitte

Die Geschichte zweier Steuererklärungen: Warum bleiben Helmut Dobmeier nur noch siebenhundert Mark zum Leben, und Ernst Wassmann kann 5.000 Mark jährlich spenden?  ■ Von Felix Berth

Helmut Dobmeier, 47 Jahre alt, hat einen Beruf, von dem mir meine Oma immer vorgeschwärmt hat. Er ist Handwerker, hat seinen Meister in Radio- und Fernsehtechnik gemacht und vor acht Jahren eine Stelle beim Staat gefunden. Seit einiger Zeit ist er für die Videoanlage der Münchner Uni zuständig. Dobmeier ist ordentlich bezahlt und als Angestellter im öffentlichen Dienst vor einer Kündigung geschützt.

Helmut Dobmeier sieht die Sache mit Omas Traumberuf freilich ein bißchen anders. Er sitzt in seinem Büro und legt seinen Gehaltszettel auf den Schreibtisch. 4.244,23 Mark brutto steht in der linken Spalte. Rechts sind die Abzüge aufgelistet:

692 Mark Lohnsteuer

53 Mark Kirchensteuer

52 Mark Solidaritätszuschlag

284 Mark Krankenversicherung

400 Mark Rentenversicherung

140 Mark Arbeitslosenversiche-

rung

22 Mark Pflegeversicherung

78 Mark Vermögensbildung.

Bleibt ein Überweisungsbetrag von 2.523 Mark. Ist doch ganz ordentlich, würde meine Oma sagen – doch Helmut Dobmeier legt noch zwei andere Abrechnungen auf den Tisch. Seine „Staatsbedienstetenwohnung“ kostet 874 Mark, was für zwei Zimmer am Rand von München noch billig ist. Und seit seiner Scheidung zahlt er für seine beiden Kinder 960 Mark Unterhalt. Also bleiben für sein Leben: 689 Mark monatlich.

Seine Ersparnisse aus einem Vierteljahrhundert Arbeitsleben schrumpfen allmählich. Das eigene Auto hat er zwar noch, „aber das kann ich mir eigentlich auch abschminken“, sagt Dobmeier. Seit einiger Zeit fragt er sich, ob er aus Gewerkschaft und Kirche austreten soll, um ein paar Mark zu sparen – was für ihn nicht nur eine beiläufige Entscheidung wäre, sondern ein Bruch mit Traditionen. Urlaub? Die Sommerferien mit seinen Kindern bestehen heuer aus zehn Tagen Ferienwohnung in der Oberpfalz: „Viel Schwammerlsuchen und viel Wandern“, hat er sich für die Zeit mit Tochter und Sohn vorgenommen.

„Sicher, es gibt noch schlimmere Sachen“, räumt Dobmeier ein, „und ich bedauer' es auch, daß es Leute gibt, denen es noch schlechter geht. Aber das hilft mir ja nicht, mit meinen 690 Mark auszukommen.“

Ernst Wassmann, 43 Jahre, hat einen Beruf, vor dem mich meine Oma immer gewarnt hat. Er ist Journalist. Nach gut fünfzehn Jahren freiberuflicher Arbeit hat ihn vor ein paar Jahren ein öffentlich- rechtlicher Radiosender angestellt. Auch er hat einen Zettel, den er gerne herzeigt, und mit dem er immer wieder Verwunderung erntet: Seine neueste Einkommenssteuer- Erklärung aus dem Jahr 1993. Pro Monat verdient er, so ist der Erklärung zu entnehmen, gut 8.000 Mark – etwa das Doppelte von Helmut Dobmeier. Im Jahr addieren sich seine dreizehn Gehälter zu 108.000 Mark. Seine Frau arbeitet nebenbei in einem Bioladen und steuert jährlich noch 12.000 Mark bei. Außerdem seien, so Ernst Wassmann, 1993 etliche Sparbriefe fällig geworden, ein Plus von weiteren 30.000 Mark.

„Und jetzt schauen Sie sich an, wieviel Steuern der Staat da kassiert“, sagt Wassmann. Wir schauen und staunen: Fast nichts. Am Ende einer langen Rechnung fordert das Finanzamt knapp 13.000 Mark Einkommenssteuer für das ganze Jahreseinkommen der Familie. Und das betrug immerhin über 150.000 Mark. Ernst Wassmann greift zum Taschenrechner und berechnet seinen Steuersatz: 8,5 Prozent. „Von wegen über fünfzig Prozent Steuerbelastung bei hohen Einkommen“, sagt er und bittet uns, doch seinen Namen zu ändern, weil ihm soviel unbesteuerter Reichtum doch ein wenig peinlich ist.

Wenn Ernst Wassmann die gleiche Rechnung wie Helmut Dobmeier macht, sieht das Ergebnis entsprechend freundlicher aus. Er verdient netto pro Monat 5.600 Mark, seine Frau 1.000, und für die Sparbriefe und Zinsen kassierte seine Familie zusätzlich 2.500 Mark monatlich. Letztere seien zwar im Jahr 93 außergewöhnlich hoch gewesen, sagt Wassmann – doch unterm Strich bleibt ein monatliches Familieneinkommen von gut 9.000 Mark. Miete zahlen Wassmanns nicht, statt dessen etwa 1.500 Mark Zinsen für das eigene Haus. Also bleiben pro Monat 7.500 Mark übrig. Davon leben zwei Erwachsene und zwei Kinder nicht eben schlecht.

Zwei Beispiele aus dem deutschen Einkommensalltag. Warum bleibt dem einen fast nichts und dem anderen soviel, daß er 5.000 Mark jährlich spenden kann? Versuchen wir etwas Ursachenforschung im Fall Dobmeier. Was den finanziellen Abstieg des Handwerkers einleitete, war seine Scheidung. Als erstes landete er in Steuerklasse eins, Mehrkosten fast dreihundert Mark pro Monat. Entsprechend mehr kassierte die katholische Kirche. Gleichzeitig schrumpfte Dobmeiers Kinderfreibetrag, weil sich seine Frau nach der Scheidung einen Job suchte.

Netto sank sein Einkommen so stark, daß er heute trotz aller Brutto-Lohnerhöhungen in den vergangenen Jahren wieder genausoviel verdient wie in seinem Anfangsjahr 1988. Um genau zu sein: sogar zwei Mark weniger. „Sicher weiß jeder, daß er nach einer Scheidung schlechter dasteht“, sagt Dobmeier. „Aber daß es so kraß wird, hätt' ich nicht gedacht.“

Ursachenforschung auch im Fall Wassmann. Seine Familie hat sich finanziell durch den Kauf des eigenen Hauses saniert. Das Finanzamt verringert deshalb das zu versteuernde Einkommen jedes Jahr um 33.000 Mark. Für die beiden Kinder der Wassmanns gibt's zwar auch einen Freibetrag. Doch der ist laut Vorgaben des Finanzministeriums erheblich niedriger: 8.000 Mark weniger darf Wassmann dank seiner zwei Kinder versteuern. Ein Haus ist da erheblich lohnender.

Helmut Dobmeier ist übrigens inzwischen auf der Suche nach einem zweiten Job, den er abends oder am Samstag erledigen kann: „Irgendwas auf 580-Mark-Basis“ will er demnächst machen. Sein Chef Heinz Mandl will ihm die Ausnahmegenehmigung dafür geben – nachdem ihm Dobmeier vorgerechnet hat, von wie wenig Geld er leben muß.

Mandl, ein eher unpolitischer Professor für Psychologie, spricht seitdem von „Zweidrittelgesellschaft“ und einer unerträglichen sozialen Situation: „Offensichtlich bekommen wir Verhältnisse, die wir bisher nur aus Polen oder Ungarn kennen – daß man selbst als Angestellter des Staates im unteren Einkommensbereich nur überleben kann, wenn man sich einen Nebenjob sucht“, sagt Mandl.