Der Städtetag hat sich verzählt

Paritätischer Wohlfahrtsverband widerlegt die Lieblingsstatistik von Minister Seehofer, nach der jeder dritte Sozialhilfeempfänger nicht arbeiten will – und plädiert gegen Sozialhilfereform  ■ Aus Bonn Karin Nink

Bonn (taz) – Der Kanzler hat es in seiner Regierungserklärung beklagt und auch Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) scheut sich nicht, regelmäßig damit zu argumentieren: Ein Drittel der Sozialhilfeempfänger wolle gar nicht arbeiten. Beide stützen sich auf eine Untersuchung des Deutschen Städtetages, die belegen will, was Volkes Stimme schon lange wußte. Nun zeigt sich, daß diese Ergebnisse weder repräsentativ noch wissenschaftlich fundiert sind. Zu diesem Schluß kommt der Paritätische Wohlfahrtsverband, nachdem er die Untersuchung des Städtetags von dem Darmstädter Professor Walter Hanesch hat begutachten lassen.

„Die von der Bundesregierung als Begründung für stärkere Sanktionen gegen Arbeitsverweigerer angeführten Umfrageergebnisse sind nicht haltbar“, stellte der Geschäftsführer des Verbandes Ulrich Schneider gestern fest. Er forderte die Kohl-Regierung auf, den Entwurf für die geplante Sozialhilfereform zurückzuziehen und eine Novellierung mit einer „vernünftigen Arbeits- und Familienförderung zu verknüpfen“.

Laut Hanesch hat der Deutsche Städtetag 180 Gemeinden befragt, aber nur von 85 Zahlen erhalten, aus denen geschlossen werden konnte, daß kommunale Beschäftigungsangebote von rund 30 Prozent der Sozialhilfeempfänger abgelehnt würden. Die übrigen 95 Gemeinden hätten das Problem nicht gekannt – weil sie mehr Bewerber als Beschäftigungsangebote hätten. „Wenn überhaupt, kann die Aussage nur für die 85 Gemeinden gelten“, sagte Hanesch. Er geht davon aus, daß die tatsächliche Ablehnungsquote sehr viel niedriger ausfällt.

Die Kritik des Verbandes an der Reform der Sozialhilfe bezieht sich nicht nur auf die vorliegenden empirischen Ergebnisse. „Auch in einer zweiten Prämisse der Reform irrt der Bundesminister“, sagte Schneider. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger sei nämlich „kein Kostenproblem“. Die Kosten sind nach den Berechnungen des Verbandes bei der Hilfe zum Lebensunterhalt pro Kopf heute sogar um 0,2 Prozent geringer als vor 15 Jahren. Gestiegen sind nach Aussagen von Schneider dagegen die Zahl der Menschen, die „Stütze“ in Anspruch nehmen müßten. Dazu zählten auch immer mehr alte, pflegebedürftige Menschen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel seien 1981 nur 40 Prozent der Altenheimbewohner pflegebedürftig gewesen, 1988 bereits 70 Prozent.

Statt die geplante Reform durchzuboxen, sollte die Regierung dafür sorgen, daß weniger Menschen zum Sozialamt gehen müßten, forderte Schneider. Dies könne zum Beispiel mit einer Öffnung der Arbeitsförderung für arbeitslose Sozialhilfeempfänger sowie durch ein bedarfsorientiertes Kindergeld erreicht werden. Nachdrücklich warnte er vor der Anpassung der Sozialhilfe an die Lohnentwicklung. „Das ist ein Systembruch, der einer Aufkündigung des sozialstaatlichen Grundkonsenses gleichkommt.“