Trauerspiel um die Bluter: der letzte Akt

Die unendliche Geschichte des Blut-Aids-Skandals: 1.300 Bluter wurden mit HIV-verseuchten Medikamenten infiziert. Hunderte sind gestorben, viele sterben bald: Sie sollen jetzt mit Billigrenten abgespeist werden.  ■ Von Irene Meichsner

Daß sich Politiker öffentlich entschuldigen, kommt nicht alle Tage vor. Es war eine große Geste, als es am 20. Januar diesen Jahres geschah: Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) entschuldigte sich bei den Opfern des Blut-Aids-Skandals, bat sie im Namen der Bundesregierung um Verzeihung „für die Fehleinschätzungen der Bundesbehörden“. Mehr als 1.300 Bluterkranke wurden in den achtziger Jahren durch HIV- verseuchte Medikamente infiziert, dazu eine immer noch unbekannte Zahl von Männern, Frauen und Kindern, die bei Operationen oder Entbindungen verseuchte Blutarzneien oder -konserven bekamen. In rund zehn Prozent der Fälle steckten sich auch die Sexualpartner an.

Und da stand es schwarz auf weiß, im Schlußbericht des 1993 eingesetzten Aids-Untersuchungsausschusses, dem der Bundestag in allseits bestaunter Einmütigkeit seinen Segen gab: Für „einen Großteil der HIV-Infektionen“ sei „ein schuldhaftes Verhalten der Beteiligten ursächlich“ gewesen.

Gemeint waren mit diesen „Beteiligten“ die Pharmaindustrie, die Blutspendedienste des Deutschen Roten Kreuzes, die behandelnden Bluter-Ärzte, die Länder, und nicht zuletzt der Bund als Dienstherr des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes (BGA). Erst im Oktober 1985 hatte das BGA Schutzmaßnahmen vorgeschrieben, teilweise sogar erst 1987. Tatsächlich habe man, so der Untersuchungsausschuß, vor der sich abzeichnenden Katastrophe schon Ende 1982 warnen müssen. Seit Spätherbst 1983 seien Arzneien aus Blut, die nicht unschädlich gemacht worden waren, „nicht mehr verkehrsfähig“ gewesen. Alle „Beteiligten“ treffe damit eine „rechtliche Mitverantwortung“.

Die Billiglösung

Heute spricht in der Bundesregierung von „rechtlicher Mitverantwortung“ niemand mehr, und bei den Opfern dieser seit Contergan größten Arzneimittelkatastrophe herrscht helle Empörung. Was ihnen derzeit angetan werde, sagt der Hamburger Rechtsanwalt Matthias Teichner, der eine Reihe von Infizierten vertritt, grenze an „Körperverletzung“.

CDU/CSU und FDP haben die Geschichte freihändig neu geschrieben, ja, auf den Kopf gestellt: Das Aids-Drama sei „weitgehend unvermeidbar“ gewesen, heißt es in der Begründung eines vom Bundestag bereits verabschiedeten Gesetzes, mit dem den Betroffenen „humanitäre“ Finanzhilfe geleistet werden soll. Morgen entscheidet der Bundesrat.

Einige hundert Bluter sind schon gestorben, viele haben nur noch Wochen oder Monate zu leben. Insofern bleibt ihnen kaum eine Wahl, als anzunehmen, was Horst Schmidbauer (SPD) eine „Billiglösung“ nennt. Noch im Frühjahr war von mindestens 200.000 Mark für jeden Betroffenen die Rede gewesen. Übrig bleiben Monatsrenten von 1.500 Mark für jeden Infizierten, 3.000 Mark für jeden an Aids Erkrankten, 1.000 Mark für Kinder und Lebenspartner.

Insgesamt schrumpfte der ins Auge gefaßte Finanzrahmen von rund 700 Millionen auf 250 Millionen Mark, die in eine Bundesstiftung fließen sollen. Sie läuft aus, wenn das Geld verbraucht ist – spätestens im Jahre 2002.

90,8 Millionen Mark bringen in vier Jahresraten die sechs beteiligten Pharmaunternehmen auf. Die Firmen hatten die verseuchten Blutprodukte wider besseres Wissen auf dem Markt gehalten. Einige verabredeten untereinander eine regelrechte „Verzögerungstaktik“ gegenüber den Behörden, um das Geschäft mit dem Blut nicht zu gefährden. Dabei malte man sich bei einer amerikanischen Bayer-Tochter in einem internen „Aids-Szenario“ schon im August 1983 aus, daß allein in den USA innerhalb weniger Jahre mit möglicherweise 2.000 aidskranken Blutern und einer Flut von Haftpflichtprozessen zu rechnen sei.

Mit 9,2 Millionen Mark beteiligt sich, ebenfalls innerhalb von vier Jahren, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) an der „humanitären“ Finanzhilfe. Als das BGA im Sommer 1984 endlich einen Test hatte vorschreiben wollen, mit dem 80 bis 90 Prozent aller HIV-verseuchten Blutspenden hätten ausgesiebt werden können, erhob der DRK- Blutspendedienst in Hagen Dienstaufsichtsbeschwerde wegen des Verdachts auf „gemeingefährliche und fachlich unqualifizierte Eingriffe in die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung“. Die hauptamtlichen Samariter aus Hagen fürchteten, rund zehn Prozent der Blutspenden wegen unsicherer Testergebnisse wegwerfen zu müssen – was ihnen zu teuer schien. Der Test wurde nie vorgeschrieben.

Die Erpressung

50 Millionen Mark zahlen innerhalb der nächsten vier Jahre die 16 Bundesländer, den größten Anteil übernimmt mit 100 Millionen der Bund. Er hält sich zugute, daß die Stiftung überhaupt zustande kommt. Seehofer hat denn auch jede Kritik am mageren Ergebnis mit dem Verweis von sich gewiesen, mehr Geld sei bei den Verhandlungen nicht drin gewesen, gerade die mehrheitlich SPD-regierten Bundesländer hätten sich knausrig gezeigt. Doch in dem würdelosen Geschacher um Geld geht unter, auf welche erpresserische Art und Weise sich jetzt alle aus der „rechtlichen Mitverantwortung“ stehlen – auch der Staat. Nicht nur, daß jeder, der die „humanitäre Hilfe“ entgegennimmt, damit von Staats wegen auch sein persönliches Schicksal für „weitgehend unvermeidbar“ erklärt sieht. Mit Annahme der bescheidenen Rente sollen auch sämtliche Rechtsansprüche auf Schmerzensgeld oder Schadensersatz erloschen sein.

Dieser Haftungsausschluß sei keine „Forderung“ der Industrie, sondern die „Geschäftsgrundlage“ aller Verhandlungsgespräche im Ministerium gewesen, hat der Vertreter der Pharmaunternehmen bei einer öffentlichen Anhörung des Gesetzes erklärt. Dieter Thomae (FDP), Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, nannte ihn im Bundestasg den „Eckpunkt“ des gesamten Stiftungskonzepts. In ähnlichem Stil wurden die Betroffenen schon einmal über den Tisch gezogen, Ende der achtziger Jahre, in Abfindungsverhandlungen mit den Pharma-Firmen beziehungsweise deren Versicherungen. Keiner hielt es für möglich, daß er ähnliches noch einmal erleben könnte. Nimmt die Bundesregierung sogar einen Verstoß gegen das Grundgesetz in Kauf?

Ohne Haftung

Der Bremer Jurist Gert Brüggemeier hat das „HIV-Hilfegesetz“ bei der öffentlichen Anhörung als „verfassungsrechtlich hoch bedenklich“ bezeichnet – wegen der „absolut willkürlichen“ Festschreibung des tatsächlichen Sachverhalts und dem Ausschluß einer juristischen Klagemöglichkeit. Und er nannte auch ein Motiv, warum beides nicht nur, was auf der Hand liegt, im Interesse der Pharmaindustrie, sondern auch der Bundesregierung gelegen haben mag.

Angelpunkt ist, so Brüggemeier, die „Staatshaftung“, sie greift, wenn auch Beamte ihre Pflichten verletzt haben. Prozesse gegen die Industrie scheitern häufig daran, daß sich nicht mehr ermitteln läßt, wann genau mit welchem Medikament der einzelne infiziert worden ist. Anders bei der „sekundären“ Haftung des Staates: Hier seien die Anforderungen an den Kausalitätsnachweis weniger eng, und die Verjährungsfrist beginnt womöglich erst – mit den bislang unwiderlegten Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses zum Fehlverhalten des BGA. Damit könnten Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche auch auf den Bund zukommen.

Immerhin: Bei solchen Prozessen geht es um 350.000 bis 500.000 Mark. Bliebe die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. Doch abgesehen davon, daß von den Opfern ohnehin kaum einer mehr über die dazu nötige Kraft, (Lebens-)Zeit und das Geld verfügt, ein Sieg in Karlsruhe könnte sich auch als Bumerang erweisen. Seehofer hat im Bundestag den „Ernst der Lage“ beschworen: Die Stifter haben ihre freiwilligen Zahlungen an die Bedingung geknüpft, daß der Gesetzestext bis aufs Komma bestehen bleibt – die Erpressung ist damit komplett.