■ Arbeitsmarkt: Re-Regulierung ist das Reform-Stichwort
: Den Stier bei den Hörnern packen!

Seit nunmehr 13 Jahren hat die Koalition in Bonn einen langsamen, aber zielstrebigen Prozeß der Deregulierung der Arbeitsbeziehungen vorangetrieben, der den Flexibilisierungswünschen der Unternehmen den Weg ebnet. Durch zahllose Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes wurden die Leistungsansprüche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschnitten. Das Beschäftigungsförderungsgesetz erweiterte die Möglichkeiten der befristeten Beschäftigung, und ein neues Arbeitszeitgesetz dehnte die im Interesse der Kapitalseite verfügbaren Arbeitszeiten aus.

Gleichzeitig stieg in den achtziger und neunziger Jahren die Zahl der Erwerbslosen dramatisch an. Die konservative Seite wird nicht müde, die millionenfache Erwerbslosigkeit – neben dem vermeintlich zu hohen Lohnniveau – den hohen arbeits- und sozialrechtlichen Standards in Deutschland zuzuschreiben. Und sie ruft weiter lauthals nach Deregulierung, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Möglichkeiten des „Länger-Arbeitens“. Demgegenüber steht der arbeitnehmerorientierte Block, der die Umverteilung der Arbeit auf alle Erwerbssuchenden propagiert.

De facto hat die Ausdifferenzierung der Arbeitsverhältnisse und damit der Arbeitszeiten bereits ihren Lauf genommen. Das sogenannte „Normalarbeitsverhältnis“ als Grundlage von Einkommen und sozialer Sicherung ist zunehmend in Frage gestellt. Außerhalb eines gesellschaftlichen Kernbereichs existiert inzwischen eine Vielzahl von Arbeitsformen und Arbeitsverhältnissen, von ungeschützter Beschäftigung, so Heim- und Telearbeit, Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit und nach wie vor Pflege- und Erziehungsarbeit von Frauen.

Das „Normalarbeitsverhältnis“ ist seit jeher in der Regel dem Mann vorbehalten gewesen. Frauen, seit Kriegsende wieder in der Rolle der „Zuverdienerinnen“, hatten in der Regel keine Chance, ihre Existenz eigenständig abzusichern. Dafür sorgten die niedrigen Frauenlöhne, die nie als Familienlöhne gedacht waren, die vielfach unterbrochenen Berufsbiographien und die Teilzeitarbeitsverhältnisse. Verkürzte Arbeitszeiten hat es schon immer gegeben, sie waren nur nicht der Rede wert, solange sie nur die Frauen trafen. Thematisiert werden sie in dem Maße, in dem nunmehr auch Männer von entsprechenden Abweichungen vom „Normalarbeitsverhältnis“ betroffen sind. Flexibilisierung leistet dieser Entwicklung Vorschub und überläßt die sich daraus ergebenden Risiken der Existenzsicherung und der sozialen Sicherung zunehmend dem Individuum. Der Teil der Gesellschaft, der über eine kontinuierliche Berufsbiographie und die damit gewährleisteten Sicherheiten verfügt, wird immer kleiner. Statt diese Entwicklungen weiter voranzutreiben und auf weitere Deregulierung zu setzen, stehen wir vor der Aufgabe, gestaltend in diesen Prozeß einzugreifen und eine Re- Regulierungsoffensive zu starten.

– Über die kollektivrechtliche Absicherung des „Normalarbeitsverhältnisses“ durch gewerkschaftliche Tarifpolitik hinaus muß sich sowohl die Gewerkschafts- als auch die Ordnungspolitik zum Schutz der ArbeitnehmerInnen in die Gestaltung der sich ausdifferenzierenden Arbeitsverhältnisse einmischen. Dies bedeutet, einen zusätzlichen individualrechtlichen Schutzansatz in das Arbeitsvertragsrecht aufzunehmen und ergänzend neben die kollektivvertraglich verankerten Rechte zu stellen.

– Auf lange Sicht fordert die Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ den Umbau des sozialen Sicherungssystems (Grundsicherung, Anerkennung von Pflege- und Erziehungszeiten, Weitergelten der Ansprüche trotz Teilzeit etc.). Bei verkürzten Arbeitszeiten wird die Existenzsicherung im Niedriglohnbereich über gesellschaftliche Transfers (Teilzeitbeihilfen) und durch Veränderung des Steuersystems zu gewährleisten sein.

– Den Flexibilisierungsanforderungen der Unternehmer müssen rechtlich abgesicherte Arbeitszeitoptionen entgegengestellt werde, die die ArbeitnehmerInnen entsprechend ihrer Interessenslage und jeweiligen Lebenssituation in Anspruch nehmen können. Dies bedeutet ein individuelles Recht auf Arbeitszeitreduzierung, beispielsweise im Falle von Kindererziehung, Pflege oder auch zur beliebigen Verfügung.

– Zwanzig Jahre ökologische Debatte haben in den Betrieben das Bewußtsein geschärft, daß sowohl die ökologischen Risiken des Produktionsprozesses als auch die ökologischen Folgen des Konsums nicht weiter Angelegenheit der Kapitalseite allein sein können. Zudem bewegen sich immer mehr Arbeitnehmer in Grenzbereichen zwischen Abhängigkeit und Selbständigkeit, systemische Rationalisierungen ersetzen teilweise die Rationalisierung im technischen Bereich. Diese Entwicklungen geben den demokratischen Beteiligungsrechten der ArbeitnehmerInnen neue, auf die Formen und Inhalte von Produktion bezogene Dimensionen, setzen ein erweitertes und in seinem Aufgabenbereich neu zu definierendes Mitbestimmungsrecht voraus.

Die Erosion des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses ist eine logische Folge der Veränderungen in den Produktionsprozessen. Daraus ergibt sich, daß der Kreis der Kernbelegschaften zunehmend zugunsten einer prekär beschäftigten Mitarbeiterschaft schrumpft. Wer allein auf die Sicherung der „Normalbeschäftigten“ setzt, wird der Ausfransung der Belegschaften nichts entgegenzusetzen haben. Deshalb gilt es, die Differenzierung der Arbeitsverhältnisse soweit aufzunehmen und zu gestalten, daß die Spaltung zwischen Kern und Rand nicht zunimmt. Prekäre Beschäftigung muß eingedämmt und mit Schutzvorschriften und Ansprüchen versehen werden. Gleichzeitig gilt es, den Kern durchlässiger zu machen. In allen entwickelten Industriegesellschaften wird auf Jahre hinaus hohe Arbeitslosigkeit herrschen. Re-Regulierung ist deshalb auch unter beschäftigungspolitischen und damit sozialen Gesichtspunkten unumgänglich. Anderenfalls müßte man die zunehmende Spaltung der Gesellschaft und die Etablierung von „working poor“ nach dem Muster der USA akzeptieren.

Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hat deshalb vorgeschlagen, mit Blick auf den skizzierten Regelungsbedarf eine Enquetekommission des Deutschen Bundestages einzusetzen. Doch hat sich die (nicht zuletzt durch positive Reaktionen aus Gewerkschaftskreisen genährte) Hoffnung, dieses Vorhaben gemeinsam mit der SPD-Fraktion durchzusetzen, bisher nicht erfüllt: Der vermeintliche Bündnispartner zeigt sich – man höre und staune – unwillig. Marieluise Beck

MdB für die Bündnisgrünen. Kurzfassung eines Artikels, der in der Zeitschrift „Die Mitbestimmung“ 7/1995 erscheint.