Jagen im toten Paradies

■ Ein Besuch auf der verstrahlten Insel Runit - mit der Angst im Nacken. Vor 40 Jahren bombten hier die USA. Soldaten mit Schutzmasken versiegelten "das Herz des Infernos"

„Warum Ihr nicht?“ Mit vom Alter geröteten Augen hatte uns Clanführer Hernest die Kokosnuß entgegengestreckt. „Warum wollt Ihr nicht ein einziges Mal probieren, was wir Jahr für Jahr essen?“ Jetzt stehen wir am Strand von Runit. Quarantäne-Insel. Die nächsten 100.000 Jahre verboten. Nordöstlicher Testquadrant – vor 40 Jahren lag er im Herzen des Infernos. Das Aluboot ist hierher gerast über leuchtendes Ultramarin, Königsblau, gläserne Tiefen, zum Eintauchen gemacht. Und dann das rotumrandete Schild, die Schrift von der Sonne verblichen. „Danger! Keep off!“

Sie wissen, es kann Jahre dauern, bis das Cäsium sie krank macht. Und das ist stets in ihrem Hinterkopf.

Tausende aufgeschreckter Seevögel flattern umher, manche nur eine Armlänge vom Kopf entfernt. Ihr kreischender Schwarm reicht 100, 200 Meter hinauf, weit oben sind sie nur noch taumelnde Striche. Hitchcocks Vögel. Als würden die Tiere der lautlosen Strahlung ihre schmerzhaften Stimmen leihen.

Und das ist stets in ihrem Hinterkopf.

Dort, hinter den Büschen, die futuristische Flachkuppel muß es sein. Nichts als Büsche – mit den Kokospalmen haben die Feuerstürme aufgeräumt. Runits Müllgrab durchmißt vielleicht 90 Meter. „Kaktus“ hieß die Atombombe. Strahlen sind Stachel. Eniwetoks Atomschrott und plutoniumverseuchte Humuserde verschwanden im Krater. Soldaten mit Schutzmasken vor den Gesichtern versiegelten das Loch, ich habe die Fotos gesehen.

Überall brüten Vögel auf den numerierten Betonquadraten. Bei K6 hat jemand in den noch frischen Beton – offenbar mit dem Zeigefinger – seinen Namen geschrieben: „David“.

Und Goliath? Die Schatten der aufgescheuchten Seevögel zucken über den gewölbten Beton wie huschende Fische. Die farblose Strahlung tut nichts. Zunächst.

Und das ist stets in ihrem Hinterkopf.

Die Jäger von der Nachbarinsel haben leichtes Spiel. Mit Stöcken schlagen sie die Vögel aus der Luft. Eine Delikatesse. Wenn man sonst so viele Konserven ißt. Vor Rerais nackten Füßen liegt ein dunkler Federhaufen – Runit birds für heute abend. Die ganze Zeit über will das merkwürdige Ziehen in meinen Oberschenkeln bis hinauf zum Hoden nicht weggehen.

Und das ist stets in ihrem Hinterkopf.

Sonnenlicht zersplittert auf dem Opal der Lagune. Grandioser Ausblick von der Kuppel: buschige Inselstreifen, die sich inmitten von Türkisgrün zum Horizont dehnen. Die einstige Explosionslinie.

Auf dem grellweißen Korallenstrand liegen sie gleichmütig verstreut, die perlmuttfarbene Spirale, der flamingorote Muschelmund. Ich bücke mich. Wenige Schritte entfernt schwänzeln fünf winzige Haie im Seichten.

Runit ist ein Spielplatz, wo sie das Fressen lernen. Ihre anmutigen Körper scheinen noch beinahe glasig.

Und das Baby sah aus wie ein Frosch. Seine Augen saßen ganz merkwürdig im Kopf, nicht wie bei einem menschlichen Wesen.

Runit, Insel der körperlosen Stimmen. Wir beginnen Muscheln zu sammeln. Trophäen? Schon möglich. Trotz? Auch möglich. Vielleicht Triumpf – über die stumme Entwertung des Bodens. Unter den Sohlen haftet der Sand.

Und das ist stets in ihrem Hinterkopf.

Wie hatte Jack gesagt, der mit einer Bikinierin verheiratet ist?

„Läuft ihnen die Nase, kommt es von der Strahlung. Tut ihnen der Hals weh, ist's das Strontium. Wer kann wissen, ob dieses grauenvolle Etwas wirkt, das sie nicht sehen können? Das wirklich große Problem mit den Atomtests heißt: psychologischer Fallout.“ Thomas Worm

Der Autor ist taz-Mitarbeiter und besuchte 1992 das frühere US-Atomtestgebiet auf den pazifischen Marshallinseln