Schön ist die Grunewaldzka

Rauchen, Kapitalismus und T-Wolken: Eine hochsommerliche Reise an die polnische Ostseeküste  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

1. Wegfahren

Woanders ist es immer besser, und Reisen im Kopf sind auf die Dauer langweilig. Deshalb fährt man weg aus Berlin, um sich woanders vielleicht die Haare schneiden zu lassen. Der Ort ist gar nicht so wichtig. Ein Freund, der nicht so gerne reist, fährt zum Beispiel, wenn ihm die Decke auf den Kopf zu fallen droht, zuweilen nach Kladow und schickt dann Postkarten an alle Freunde. Am Abend kommt er erholt und voller neuer Geschichten zurück.

Doch Wegfahren ist auch recht kompliziert. Dem Alleinreiser fällt es schwer, sich zu entscheiden, wohin er denn nun eigentlich möchte. So streitet man sich lang im eigenen Kopf und fühlt sich beim Betrachten der Landkarten so ähnlich wie im KaDeWe in der Lebensmittelabteilung. Osten natürlich; Polen – doch wie weiter?

Das Problem des Reiseziels löste sich bei mir dann eher zufällig: Abends erzählte ein Bekannter, Gdansk sei ganz besonders schön. Am nächsten Morgen kaufte ich mir – nach diversen Überleg-Zigaretten, zu denen ich das Reisebüro immer wieder verließ – die Fahrkarte.

Ein weiteres Problem beim Wegfahren sind die Sachen, die man mitnehmen will. Am Ende ist es immer zuviel: Bücher, die man nicht lesen wird, Schuhe, die man nicht tragen wird, Hemden, die man am Urlaubsort bescheuert findet. Wichtige Dinge vergißt man oft: die Adressen von Freunden, die man in Warschau besuchen wollte. Ein Bügeleisen. Die Danziger Trilogie von Grass. Oder Zigaretten: Denn Camel-ohne-Raucher haben in Polen keine Chance.

Polen ist schön. Polen ist anders. Und die Regeln des Rauchens sind undurchsichtig. Als ich schließlich in Gdynia angekommen vor dem Bahnhofseingang rumsaß und rauchte, kamen drei bewaffnete Kräfte auf mich zu, redeten mißbilligend auf mich ein, deuteten auf meine Zigarette und wollten meinen Paß sehen. Mit finstrem Gesicht begann ein Wachtmeister, mir ein „Mandat“ auszustellen. Vor dem Bahnhof sei das Rauchen allerstrengstens verboten, bedeutete er mir. Als er den Strafzettel fertig hatte, zerriß er ihn dann doch gnädig. Ich sagte: „dziekuje“ und machte ein feiges „Fuck off“-Zeichen, als er mich nicht mehr sehen konnte. Eine Karawane junger Männer zog währenddessen singend vorbei.

Ein paar Tage später in Gdansk, in einer menschenleeren nächtlichen Straße, kamen wieder zwei Polizisten auf mich zu. Zunächst freute ich mich, denn ich hatte mich verlaufen. Ich solle meine Zigarette ausmachen, bedeuteten sie mir unheilschwanger. Als ich am nächsten Tag in einem Fremdenverkehrsbüro fragte, ob das hier jetzt so sei wie in Amerika, und ob Rauchen vielleicht nachts auf offner Straße untersagt sei, verneinte man – allerdings erst nach Rücksprache, denn so ganz sicher war man sich nicht –, und forderte mich auf, in dem kleinen Raum möglichst viel zu rauchen. Die „Sex- Sport“-Zigaretten, die mir das letzte Mal noch aufgefallen waren, gibt es leider nur noch selten. Häufig dagegen ist die Marke „Ex Club“.

In einer innen schwarz ausgemalten Hippiekneipe am Strand sitzen schwarzgekleidete Punker, Künstler und andre „Avantgarde- People“ und rauchen Haschisch aus Amsterdam. Ein junges Mädchen, das tagsüber Parkplätze bewacht, erzählt, daß sich vor ein paar Jahren junge Dealer noch bemüht hätten, so auszusehen wie die in amerikanischen Filmen. Das sei nicht immer ihr Vorteil gewesen. Im Hintergrund läuft die Twin- Peaks-Musik.

2. Wohnen

Es ist Hochsaison und alle Polen sind verreist. Sie sind in Leba zum Beispiel, dem berühmten Badeort in der Nähe der weltberühmten Wanderdünen. Wer kein Quartier hat oder kein Geld, zieht rucksackbeschwert durch die Straßen. Oder hängt am Bahnhof oder am Marktplatz rum, der in Leba etwas puppenstubenmäßig geraten ist. Unglaublich viele junge Leute zwischen 16 und 30 sitzen hier und trinken schon am frühen Morgen Bier.

Am Strand vor einer Ostsee, die zuweilen so hohe Wellen hat, daß man's gar nicht glauben kann, haben kleine Mädchen und Jungen grüne und rosa Badekappen auf, die sich fest um ihre Köpfe schließen. Abends geht eine lärmende Gruppe deutscher Kinder vorbei. Die Jungs werfen mit Steinen nach den Möven. Als sie eine getroffen haben, und die Möve dann herunterfällt, freuen sie sich sehr. Ein paar junge Männer singen später antisemitische Fußballieder, wenn ich's richtig verstanden habe, doch fragen wollt' ich nicht.

Die meisten Hotels sind in der Hochsaison ausgebucht. So übernachtet man in Privatpensionen oder bei Leuten, die auf dem Bahnhof stehen und auf etwaige Gäste warten. In Leba quartierte mich ein Mann, der früher bei der Danziger Werft als Ingenieur gearbeitet hatte, im Jugendzimmer seines Sohnes ein. Auf der Terasse saß ein dicker Berliner mit seiner polnischen Freundin und rechnete aus, was für ein „Schweinegeld“ man hier mit Zimmervermietung verdienen könnte. Daß er sich bei den enormen Gewinnspannen, die er errechnete, um eine Null vertat, störte ihn nicht weiter.

In Gdansk wohnte ich in der Privatpension „Angela“. Die Pensionswirtin, eine Polnischlehrerin, liebt bunte Farben, Muster und Marienbilder und ist wie die meisten Polen eine große Pflanzenfreundin. In der Küche gab es sechs Farne; im Zimmer stand ein laubumkränzter Fernseher, in dem ein Mann, der ein bißchen an Gregor Gysi erinnerte, sentimentale Lieder sang. Das Einzelzimmer war grasgrün, das Doppelzimmer samtrot.

Im Eßzimmer, das mit schweren roten Vorhängen imponierte, war das Klavier plastikblumengeschmückt, während ansonsten raffinierte Kombinationen aus Kunst- und echten Blumen vorherrschten. Überall gab es Bilder an den Wänden und Würstchen, Blaubeerkuchen, Bier, Marmelade, Käse, Mayonaise, Marmelade, Ketchup, Kaffee, Salzgurken, Quark und Eier zum Frühstück.

Am Tisch saßen auch Achim und Clemens, zwei junge Berliner Touristen, die für einen Tag nach Gdansk gekommen waren. Die Strecke zwischen Berlin und Gdansk seien sie „ganz schön gebrettert“ erzählten sie stolz; 140 seien sie ständig gefahren und hätten es in fünf Stunden geschafft. Vom Nachtleben waren sie etwas gebeutelt. Denn in den Diskotheken seien sie ganz furchtbar von polnischen Mädchen bedrängt worden und waren so von der einen in die nächste geflohen. Ansonsten fanden sie „Polen sehr gut. Sehr gut.“ Etwas traurig nur schaute Achim: „Wenn man bedenkt, was wir da alles verloren haben“; tausend Jahre sei die Stadt doch deutsch gewesen. Einen Tag später wollte ein hübscher Araber aus Schweden, der mit seinem Bruder für einen Tag das samtrote Zimmer bezogen hatte unbedingt über nationale Vorurteile im allgemeinen und Juden im besonderen reden. Weil die doch keiner möge. Und was ich denn von Juden halte. Im übrigen seien alle Menschen gleich – das betonte er immer wieder.

In Sopot wohnte ich bei Helena, einer Betriebsärztin, die kein Englisch sprach, dafür aber auf deutsch bis zwanzig zählen und „Achtung“ sagen konnte. Zur Begrüßung wechselte sie im Satelliten-TV auf RTL 2. Da gab's Tony Marshall, Costa Cordalis und Karl Dall. Aufmunternd wippte sie und holte Nachbarn, die auch fröhlich zur Schlagermusik wippten und mich dabei schelmisch ansahen. So wippte auch ich ein bißchen. Das Gespräch, das wir mit Hilfe meines praktischen Sprachführers „Fragen Sie danach auf Polnisch“ führten war nicht ganz einfach. Zumal meist tatsächlich nur Fragen und Befehle, aber kaum Antworten drin standen.

Am besten gefielen mir in dem Sprachführer ein paar Sätze im Kapitel „Wichtigste allgemeine Redewendungen“. Auf „Verzeihung, wo befindet sich das Kulturzentrum der DDR“, folgte „Verzeihung, wo befindet sich die Botschaft der DDR“. Auch das Kapitel „Der Autounfall“ war sehr interessant. Da erfährt man was „ich bin unschuldig“, „das ist meine Schuld“ und „Bitte um eine schriftliche Erklärung Ihrer Schuld“ heißt.

Als es uns zu kompliziert erschien, uns weiter mittels Wörterbüchern zu unterhalten, machten wir Sprachspiele. Ich erzählte, daß ich schon Tage gebraucht hätte den Danziger Stadtteil Wrzeszcz halbwegs richtig auszusprechen. Triumphierend präsentierte mir Pjotr, ein Nachbar, daraufhin noch ganz andere schwindelerregende Kompliziertheiten der polnischen Sprache. Den Vornamen Brzeszczyczykiewicz zum Beispiel. Dazu kicherte er.

3. Kleidung

In Polen kommt man sich – wie übrigens auch in anderen osteuropäischen Ländern – häufig völlig „underdressed“ vor. Man schämt sich seiner zerknautschten Hemden und wünscht sich plötzlich, daß man ein Bügeleisen mitgenommen hätte. Vor allem die Polinnen verstehen es, sich meisterhaft zu kleiden. Außerdem sind sie unglaublich schön! Kein Wunder, daß der Marienkult so ausgeprägt ist. Oft gehen sie zu zweit. Manchmal auch Arm in Arm.

Was für die Menschen gilt, gilt auch für die Städte. Schön wäre es, wenn sie sich gegenseitig besuchen könnten. Wenn der Kudamm in die Grunewaldzka nach Gdansk fahren würde, würde er sich hoffentlich ganz fürchterlich schämen. Die deutsche Häßlichkeit, die in ihrem Protestantismus das Äußere für unwichtig erklärt, ist vermutlich vorsätzlich. Sie zeigt sich überall: in der Kleidung, an den Häusern meiner Straße, in denen die meisten der Anwohner sozusagen demonstrativ keine Blumenkästen aufgestellt haben, in den Schaufenstern, Telefonhäuschen, oder auch darin, daß man in Westberlin wie in den meisten deutschen Großstädten meint, auf Straßenbahnen verzichten zu können. Gäbe es in Berlin keine Ausländer, wäre alles eine Katastrophe!

Wie schön dagegen ist da doch die Grunewaldzka, die Einkaufsstraße in Gdansk. Selbst die Reklameplakate und die Camel- und Coca-Cola-Schirme wirken hier schön. So verspielt und mit soviel Freude an den Farben von Verpackungen, Werbebildern hat man die Schaufenster geschmückt, daß man zum Marktwirtschaftler werden könnte.

Und in der Mitte der Straße fährt eine Straßenbahn, wie es sich gehört. Und am Rande gibt es immer Spielplätze mit Giraffen, kleinen Schweinchen und Raketen aus bunt angemaltem Metall. In der Ul. Obywatelska fand ich auch einen Spielplatz mit einem Hubschrauber. Und immer weht ein leichter Wind.

Auf der Zugfahrt nach der Halbinsel Hel gerät der Sommer außer Rand und Band. Der Tag ist so schön, daß der Zug mit offenen Türen fährt. Sonnenflecken fliegen im Rhythmus der Räder auf den Gleisen über den roten Teppich auf dem Gang.

Auf der Mole von Sopot drängen sich die Touristen. Bescheuert wehmütig spielt eine polnische Kapelle: „Take me home, take me home, to the place I was born ...“ Die Wolken formen sich in horizontalen Schreibheftlinien zu Buchstaben. Ein „T“ ist auch dabei. Warum auch immer.

„Wir reisen, soviel ich weiß, nicht zu unserem Vergnügen. (...) Wir sind blöd, aber so blöd sind wir nun doch wieder nicht.“

(Samuel Beckett: „Mercier und Camier“)