Muslimische Problemzonen

Von kommender Woche an wird bei gläubigen Muslimen tagsüber gehungert: Der Fastenmonat Ramadan beginnt. Überall auf der Welt zur gleichen Zeit – und doch nicht ganz. Mehrmals täglich beten Muslime Richtung Mekka. Aber wann genau? Seit die weltweite Mobilität auch über die Muslime kam, suchen sie – vor allem in Europa – exakte Zeiten für ihre religiösen Pflichten. Es stören geographische und astronomische Besonderheiten wie wandernde Datumslinien und alternierende Mekkarichtungen Von Bernd Müllender Nehmenwir ein anderes Beispiel: Der Koran verlangt völlige Dunkelheit zum Nachtgebet: Wie soll das, im angenommenen Extremfall, im Juli am Nordkap funktionieren? Die rettende Lösung für die Gläubigen kommt aus der tiefen muslimischen Diaspora, der Domstadt Aachen. Am dortigen Islamischen Zentrum arbeitet ein syrischer Pharmazieprofessor, der in jahrelanger Kleinarbeit eine Formel ausgetüftelt und endlich computerisiert hat, die nun weltweit anwendbar und gültig ist

Atheisten sind fein raus: Sie beten nie. Auch praktizierende Christen haben Freiheiten: Sie beten, wann immer ihnen danach ist. Ganz anders die gläubigen Muslime, deren Prophet Mohammed sich eine besondere Prüfung ausgedacht hat: die präzise definierten Bet- und Fastenzeiten, niedergeschrieben im Koran.

Die überwiegende Mehrheit der Muslime sind Sunniten, sie beten fünf Mal am Tag (Schiiten: drei Mal). Entscheidend für die fünf Betperioden der Sunniten sind Dämmerungsanfang, Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang und das Ende der Abenddämmerung. Leicht nachzuvollziehen – aber problemlos nur umzusetzen, solange die Muslime mehrheitlich in einem Gürtel nahe des Äquators lebten, wo es im Laufe eines Jahres immer etwa gleich lang hell ist. Doch dann kam die Mobilität auch über den Orient: Man zog west- und vor allem nordwärts. Und erreichte bald Problemzonen, wo es sommers nicht mehr recht dunkel werden wollte. Im Extremfall: Kann man im sommers dauerhellen Grönland überhaupt als praktizierender Moslem leben? Doch das Drama beginnt schon viel früher, sprich: südlicher. Spätestens an dieser Stelle braucht die Problematik fachkundige Erklärung.

In Aachen, im unscheinbaren Islamischen Zentrum (IZA) arbeiten die beiden Syrer Prof. Dr. Mohammad Hawari, 68 Jahre, und sein Sohn Mahmoud, 29 Jahre, am Thema. Mahmoud seufzt gleich zu Beginn des Gesprächs: „Tja, wenn die Erde eine Scheibe wäre, wäre alles so viel einfacher.“ „Die Betintervalle“, erläutert Mahmoud, „funktionieren im Sommer schon nördlich des 45. Breitengrads nicht mehr, also bereits in Südfrankreich.“ Denn: „In Europa gehen im Sommer bestimmte astronomische Merkmale für die Gebetszeiten verloren.“

Merkmale? Gemeint ist etwa die Abenddämmerung. „Das Ende der Dämmerung ist in der Astronomie definiert: Die Sonne muss einen Winkel von mindestens siebzehn Grad unter dem Horizont erreichen. Erst dann ist es absolut dunkel, und erst dann darf unser Nachtgebet beginnen.“ Aber: Es gibt an einigen Sommertagen Mittel- und Nordeuropas keine solche „astronomische Nacht“, weil die Sonne nicht weit genug untergeht. Der gläubige Moslem aber kann seine Pflichten nicht erfüllen: Der Tag bleibt, das Gebet kommt nicht. Je nördlicher, desto größer werden die Problemzonen: Schon in Aachen selbst seien es im Hochsommer 71 Nächte, in denen „immer noch, wenn auch nicht sichtbar, ein gewisses Restlicht da ist“.

Vater Mohammad Hawari widmete der Problematik sein Lebenswerk. Schon als junger Mann hatte er die Schwierigkeiten am eigenen Leib erlebt. 1958 war er nach Brüssel gekommen, um seinen Doktor in Pharmazie zu machen. Alle hatten das gleiche Problem: Wann beten? „In Brüssel gab es damals vielleicht sechzig gläubige Moslems, inklusive der Botschaften.“ Heute gibt es dort allein doppelt so viele Moscheen. In Brüssel habe man aus der Moschee in Paris und dem Islamischen Zentrum Genf überschlägige Berechnungen bekommen. „Mir fiel gleich auf, dass diese Gebetszeiten nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf empirischer Grundlage beruhten.“ Heißt: Da hatte jemand in Genf einfach beobachtet und hochgerechnet. Hawari wusste: Das geht so nicht.

Umfragen besagen, dass auch in okzidenter Welt mindestens ein Drittel der Muslime die täglichen Gebete zur richtigen Zeit sehr ernst nimmt. Das Mittagsgebet kann nicht um High Noon erledigt werden, wenn die Sonne erst um 12.11 Uhr im Zenit steht. Mohammad Hawari: „Prophet Mohammed hat das gesagt; hat uns so die Gebete beigebracht, abhängig von der Sonne, von der Zeit.“ Ein Gesetz für die Ewigkeit: „Ist so, bleibt so.“ Der junge Doktorant durchforstete wissenschaftliche Grundlagen und begann zu rechnen. Vieles galt es für jeden einzelnen Ort zu bedenken: Geographische Zeit, Uhrzeit, Sonnenverlauf an jedem Tag. „Und alles ging natürlich noch manuell ohne Computer. Ich arbeitete mit einem mechanischen Zahnräderrechner, einer sogenannten Rechenmühle.“

Bald hatte Hawari ein kleines Büchlein fabriziert mit den Gebetszeiten für alle wichtigen europäischen Städte und den jeweiligen Gebetsrichtungen nach Mekka und Näherungswerten für die Sommerlochzeiten. Aber er wusste: Ohne Plazet der geistlichen Führer bliebe es ein inoffizielles Spiel. 1962 kehrte Hawari an die Universität Damaskus zurück, wurde bald Pharmakologieprofessor und begann eine zwanzigjährige Suche nach religiösen Rechtfertigungen für seine aufwendigen Schätzmethoden: „Alles musste theologisch verpackt werden. Mein Renommee als Wissenschaftler allein hätte nicht gereicht.“

1980 kam die Familie Hawari nach Aachen. „Ich weiß noch“, erzählt Sohn Mahmoud, „wie Papa immer da saß und per Hand fünf Stunden lang für jede Stadt die Betzeiten ausrechnete. Da durften wir nicht stören.“

Dann endlich die ersten Computer, gleichzeitig traf das Problem mehr und mehr Euromuslime. Es gab viele Theorien und diverse Schätzmodelle. Immer wichtiger wurde eine internationale Übereinstimmung, damit der Muezzin verlässlich wusste, wann er rufen kann. „Viel mathematische Feinfühligkeit“ war vonnöten. Schließlich gibt es verschiedene Zeitzonen in einzelnen Ländern (Beispiel: USA), manchmal halbstündig wechselnde gegenüber Greenwich (etwa Iran oder Indien). Und mit der Echtzeit ist es wieder anders als mit den Uhrzeiten im Stundentakt: Berlin und Aachen etwa haben stets die gleiche Uhrzeit, liegen aber astronomisch dreißig Minuten auseinander (im Sommer geht im westlichen Aachen die Sonne so viel später unter).

Große Konferenzen zum Thema folgten, wo sich, wie Hawari erzählt, Theologen und Astronomen intensiv beharkten. Am Ende aber „wurde meine Schätzmethode einstimmig befürwortet“. Namhafte Rechtsgelehrte, Koranschulen und Großmuftis segneten Hawaris Rechenkünste ab, dann konnte alles „dem großen islamischen Gutachterrat in Mekka vorgelegt werden“, der es schließlich „als Standardmethode akzeptierte“. Heute sind Hawaris Berechnungen „Referenzmethode fast in der gesamten arabischen Welt“. Alle großen arabischen Zeitungen, erzählt Mahmoud, „drucken heute täglich unsere Betzeiten für ein paar Dutzend großer europäischer Städte ab“, etwa Al-Arab („die FAZ Arabiens“) und Al-Ahram in Kairo.

Das IZA bekommt heute 1.500 Anfragen pro Jahr für irgendwelche Orte in Europa. Alles Wissen steckt in großen Datenbanken. Siebentausend Städte. Bei Bedarf lässt sich jede kleine Ortschaft schnell durchrechnen – „Zack, Knopfdruck“, sagt Mahmoud. „Mein Vater hat die große Formel gemacht, die Generalgleichung, anwendbar für alle Orte der Erde und alle Uhrzeiten an allen Tagen.“ Leider rücken die Hawaris das Formelmonstrum nicht heraus: Betriebsgeheimnis. Mahmoud verrät nur soviel: „Es ist ein Bruch mit Wurzelrechnungen, mit Hochrechnungen, mit trigonometrischen Funktionen, also Sinus und Cosinus, mit mehreren Variablen für Längen- und Breitengrad eines Ortes, verschiedene Variable zu den Uhrzeiten usw. Eigentlich ist die große Formel aus vierzig kleinen zusammengesetzt, wobei die Zeitgleichung die schwierigste ist. Auswendig kenne ich sie auch nicht.“ Vater Hawari, der Herr der Zeiten, lächelt derweil: „Ich schon.“

Sonne, Mond und Sterne sind für alle gleich. Große Unterschiede entstehen, wenn verschiedene Kulturen verschiedene Gestirne zur Monats- und damit zur Jahresbestimmung benutzen. In der christlichen Welt ist ein Jahr herum, wenn die Erde einmal den Fixstern Sonne umrundet hat. In der islamischen Welt beginnt ein jeder neuer Monat, wenn der Mond eine Runde um die Erde geschafft hat. So ergibt sich ein Jahr aus zwölf solcher Mondmonate, die immer (meist genau abwechselnd) 29 oder 30 Tage haben und somit eine Gesamtlänge von nur 354 Tagen. Der Moment indes, in dem der Neumond den ersten Hauch einer Sichel bekommt und damit ein neuer Mond-Monat beginnt, ist beim islamischen Kalender an jedem Ort der Erde unterschiedlich. Mohammad Hawari: „Wir in der islamischen Welt haben eine wandernde Datumsgrenze. Sie ist variabel und liegt jeden Monat woanders.“

Und schon haben wir ein neues Dilemma. Der Ramadan kann in Stadt A schon beginnen, nebenan in B aber noch nicht; oder in C wird schon wieder gegessen, während man in d noch hungert. Wie auch dieses Jahr: In Europa beginnt er am 9. Dezember (christlicher Zeitrechnung), weiter östlich erst einen Tag später. So braucht man zusätzlich jede Minute neu exakte Kenntnis über Sonnenstand, Mondverlauf und das astromische Verhältnis zur Erde. Rechnerisch kein Problem: Dazu gibt es Tabellen, auf die Minute genau. Vater Hawari drückt „Enter“ – neue Zahlenberge kommen aus dem Rechner. Und Sohn Mahmoud skizziert neue Weltensichten – hier die Umrisse Asiens, da die Europas und darüber wohlgeformte Bogenlinien. Links von der Linie, sagt er, ist der eine Tag, rechts der andere, weil alles abhängig ist von der Mondsicht. Weiter westlich sieht man ihn eher, also ist Ramadans Starttermin auch früher. Doch mit Mathematik allein ist es auch hier nicht getan.

Beim Ramadanende im Januar 1999 entdeckten manche Muslime die Mondsichel einen Tag früher als erwartet und konnten früher den Tisch decken. Wie das? Es gibt eine sichere mathematische und gelegentlich eine praktische Antwort: Der Winkel zwischen sichtbarem Mond und Erde, erläutern die Aachener Islam-Astronomen, muss mindestens sieben Grad betragen, damit man das Erdengestirn auch sicher sehen kann im Moment des Sonnenuntergangs: „Das ist der ideale Ausgangspunkt.“ Und es ist der entscheidende Zeitpunkt: Denn mit dem Sonnenuntergang, nicht etwa Mitternacht wie bei uns, endet und beginnt bei den Muslimen ein jeder Tag.

Manchmal aber kann man bei idealer Sicht auch unter sieben Grad die Mondsichel entdecken – so wie diesen Januar in München: Da guckte jemand im rechten Moment – hungrig? – hoch. Und es klappte, der Ramadan war zu Ende. Woanders war es bewölkt: Niemand hatte eine Chance zu vorzeitiger Sicht. Das hieß: einen Tag länger warten. Am nächsten Tag zählt hinreichend die mathematische Lösung, niemand muss bei dauerhaft schlechtem Wetter warten und warten.

In vielen arabischen Ländern kundschaften noch heute Gesandte das Land ab, „alles astronomisch und theologisch gebildete Leute mit gutem Sehvermögen“ (Hawari sen.) und machen die „Sichtungsmeldung“. Manchmal wird es knapp: Marokko hatte dieses Jahr, belegt Mohammad Hawari mit einer Tabelle, rechnerisch vier Minuten die Chance, den Mond vorzeitig zu entdecken. Doch niemand hatte aufgepasst. Also: einen Tag länger fasten. Mahmoud Hawari: „Sehen ist eben ein Teil der religiösen Pflicht.“

Auf Kongressen, erzählt Mohammad Hawari, streite man sich erheblich über das „herkunftsbedingte Fasten“: Manche in Deutschland richten sich nämlich nach ihren Geburtsländern. Das bedeute: Sie fangen hier einen Tag später an, hören einen Tag früher auf. Da können vier verschiedene Intervalle zusammenkommen. Vereinheitlichung tue not, sagt Hawari jun.: „Jetzt hat Ägypten vorgeschlagen, einen islamischen Satelliten ins All zu schießen, der Mondbilder überträgt, eine internationale Kommission könnte einen einheitlichen Beginn festlegen. „Es ist einfacher, besser, einheitlicher, wenn alle Muslime gleichzeitig fasten.“ Der gedulderprobte Vater weiß: „Aber das braucht noch viel Zeit.“

Um 12.48 Uhr ruft der Aachener Muezzin zum Gebet. Die Hawaris gehen in die kleine Moschee nach nebenan und verneigen sich betend für ein paar Minuten nach 126 Grad Südost. Pause für den ungläubigen Reporter und damit Zeit für ein letztes Gedankenexperiment: Derzeit ist der islamische Kalender bei 1420 angelangt. Unser Kalender steht kurz vor dem besonderen Jahr 2000, was für die Moslems kaum eine Bedeutung hat. Wann sind die Kalender wohl gleich? „Gute Frage“, sagt Hawari jun. Und man rechnet. Ergebnis: Im Jahre 20874 wird, wie Mohammad Hawari exklusiv für das taz.mag berechnet, die islamische Zeitrechnung die christliche eingeholt haben. 20874 anno dominorum, im Jahr der Herren also. Gelobt sei Allah! Christus akbar!

Bernd Müllender, 43 Jahre, Freund alternativen Fußballs, war bisher freier Journalist und Autor in Aachen. Pünktlich zum Ramadan zieht er in die Berliner Sportredaktion der taz ein, insh‘ allah